Die Oscars also. Sie werden kommen und gehen, Kleider werden getragen und wieder abgelegt werden, die Anna und ich werden eine Nachtschicht einlegen und uns in den frühen Morgenstunden über einer dampfenden Tasse Kaffee anschauen und uns sagen, dass wir noch nie im Leben sowas Langweiliges gesehen haben. Und nächstes Jahr werden wir es wieder tun, weil es ja jemand tun muss, und in den Kategorien beste Regie und bester Film wird mal wieder keine Frau nominiert gewesen sein, und ...
Genug gejammert! Ich war gerade im Kino und hab einen Film gesehen, der ... Okay, ich hätte am liebsten zwei Stunden lang durchgeweint, was aber nicht ging, weil ich unter meinesgleichen, also unter Kritikerinnen und Kritikern sass, und die zeigen im Kino keine Gefühle. Allerhöchstens mal ein kurzes, aber sofort wieder in die Unterdrückung zurückgeführtes Lachen.
Also, der Film ist für drei Oscars nominiert – für adaptiertes Drehbuch, Nebendarstellerin und Filmmusik – und ich werde bei jedem einzelnen mitfiebern. Denn «If Beale Street Could Talk», so heisst der Film, gehört nun wirklich zum Wundervollsten, was ich je gesehen habe. Herzzerreissend, feinfühlig, todtraurig. Selten habe ich Liebe im Kino so intensiv und berührend dargestellt gesehen, ich schwör's, und ich bin Liebesfilmen gegenüber alles andere als abhold.
Barry Jenkins, der vor zwei Jahren mit «Moonlight» und einem vertauschten Umschlag «La La Land» den peinlichsten Nicht-Gewinn der Oscargeschichte bescherte, hat den gleichnamigen New-York-Roman von James Baldwin aus dem Jahr 1974 adaptiert. Und Baldwin war nun mal ein äusserst feiner, sacht ironischer, aber auch bissiger Beobachter.
Unübetroffen etwa sein Reisebericht aus Leukerbad von 1953 unter dem Titel «Stranger in a Village». Vor seinen Besuchen im Chalet von Freunden hatte das Dorf weder einen Schwarzen noch eine Schreibmaschine gesehen, und die Bewohner konnten gar nicht anders, als dem «Neger» andauernd in die komischen Haare zu fassen. Er gruselte sich seinerseits vor all den im Thermalwasser kurenden «Krüppeln».
«If Beale Street Could Talk» ist die Geschichte von Tish (KiKi Layne) und Fonny (Stephan James), die seit Kindertagen beste Freunde sind und irgendwann – sie ist 19, er 22 – realisieren, dass sie einander lieben wie niemanden sonst. Scheues, vorsichtiges, unermessliches Glück macht sich breit. Er ist auf dem besten Weg, vom Schreiner zum Künstler zu werden, sie hat einen Job als Parfümverkäuferin – da behauptet eine Puerto-Ricanerin, er habe sie vergewaltigt. Ein weisser Cop eilt ihr zu Hilfe, Fonny verschwindet im Gefängnis, Tish ist schwanger, ein zäher, aussichtsloser, grausamer Kampf um Schuld oder Unschuld beginnt.
Der latente Rassismus der Siebziger zeigt sich in kleinen, reduzierten, eindringlich schmerzhaften Szenen, aber der grösste Raum gehört den Liebenden. Gehört zwei Menschen und ihrer totalen Intimität. Ihrer absoluten Vertrautheit und Innigkeit.
Allein Tishs Blicke füllen tausend Täler des Schweigens oder der Unsicherheit der beiden mit Legenden ewiger Zuneigung. Mit ihrem jungen Glauben, dass diese erste Liebe die grösste der Welt und aller Zeiten sein müsse. Okay, das klingt monströs sentimental und nach einer Überhöhung ins Mythische, Märchenhafte. Ist es auch ein wenig. Aber die Liebe darf das. Im Kleinen nach dem ganz Grossen greifen. Und für Tish und Fonny ist diese Zeit eh von viel zu kurzer Dauer.
«If Beale Street Could Talk» ist damit der vierte grosse «Black Movie» neben «Black Panther», «BlacKkKlansman» und «Green Book» an den diesjährigen Oscars. Im Gegensatz zu den andern drei ist er weder für den besten Film noch für die beste Regie nominiert, was jammerschade ist. Was für eine Qualität! Was für ein grossartiger Cast! Was für eine Sensibilität in Sachen Gesellschaftskritik. Ein wirklich, wirklich brillanter Film.
Spike Lees lustiger «BlacKkKlansman» nimmt sich dagegen aus wie eine recht besoffen vor sich hin polternde Komödie, «Green Book» ist ein fett triefender Wohlfühlschinken der Versöhnlichkeit zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiss, Homo und Hetero, und wieso ausgerechnet der am Ende nicht sonderlich interessante Superheldenstreifen «Black Panther» in der Kategorie Bester Film nominiert wurde, ist eh niemandem so richtig klar.
Egal. Es ist wie's ist. Am Ende wird «If Beale Street Could Talk» wohl den Oscars fürs beste adaptierte Drehbuch gewinnen, «Roma» wird bester fremdsprachiger und «The Favourite» bester allgemeiner Film, was in der gegebenen Auswahl nicht falsch ist. Es sei denn «A Star Is Born», diese schauderhaft klischierte Erzählung über einen Mann, der eine Frau zu etwas macht, was schliesslich über ihn hinauswächst und sein Selbstbewusstsein zerstört, wird ... Aber daran denken wir lieber nicht.
«If Beale Street Could Talk» läuft leider erst ab dem 14. Februar im Kino. So, so sorry!