Als Narciso Barranco Ende Juni vor einem IHOP-Restaurant in Tustin, Kalifornien, den Garten pflegt, nähern sich ihm plötzlich bewaffnete, maskierte Männer mit Schutzwesten, Baseballmützen und Sonnenbrillen. Barranco ergreift die Flucht. Die Männer verfolgen ihn, einer zieht eine Pistole und richtet die Waffe auf ihn, wie in einem schlechten Gangsterfilm. Auf einem Parkplatz erwischen sie ihn, sprühen ihm Pfefferspray in die Augen, prügeln ihn auf den Boden, schlagen weiter auf ihn ein, einer zückt einen Teleskopstab. Endlich gefesselt werfen sie ihn in einen SUV.
Narciso Barranco wurde gerade von ICE-Agenten festgenommen. ICE steht für US Immigration and Customs Enforcement. Es handelt sich dabei um die Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit (DHS) der USA. Doch das kann Barranco nicht wissen. Rein äusserlich unterscheiden sich die Männer nicht von Kartellmitgliedern oder einer anderen gut organisierten Gruppe Krimineller.
Wie Barrancos Sohn, ein US-Marine, der in Afghanistan diente, später gegenüber verschiedenen Medien berichtet, wiesen sich die ICE-Agenten nicht aus: Sie zeigten keine Identifikationspapiere, verrieten keine Namen, besassen keinen Haftbefehl. Tage später sitzt der Vater dreier Söhne – alle drei sind Marines – noch immer in denselben blutverschmierten Kleidern wie bei seiner Verhaftung in Ausschaffungshaft. In einem Käfig zusammen mit 70 anderen Menschen. Privatsphäre gibt es keine – und nur eine Toilette. Nie war Barranco kriminell gewesen. Aber er befand sich undokumentiert in den USA.
Barrancos Fall ist mit zahlreichen Videos gut dokumentiert. Einige der ICE-Mitarbeiter tragen nicht einmal eine Erkennungsmarke (Badge). Dasselbe Bild zeigt sich vielerorts in den USA. Beispielsweise in New York, wo viele Fälle mit Videos festgehalten wurden. Dort führen Männer in Hoodies und schmuddeligen Hemden junge Männer ab. Was aussieht wie Entführungen, sind tatsächlich Verhaftungen. «Wie können wir wissen, dass ihr wirklich Bundesbeamte seid?», fragt eine Frau in Massachusetts, als in Great Barrington mutmassliche ICE-Beamte eine Person festnehmen: «Wir müssen uns nicht ausweisen», brummt der Agent durch seine Maske im Video.
Ganz so einfach ist es aber nicht.
Laut NBC10 in Boston regelt die Sektion 1064 im National Defence Authorization Act aus dem Jahr 2021, wie Bundesbeamte sich auszuweisen haben. Dort steht (übersetzt):
Wann immer ein Mitglied der Streitkräfte (einschliesslich der Nationalgarde) oder des Bundespolizeipersonals die Bundesbehörden bei der Bewältigung ziviler Unruhen unterstützt, muss jedes Individuum, das solche Unterstützung leistet, sichtbar anzeigen ... :
Es gibt allerdings Ausnahmen für Personen, die …
Während der zweite Punkt für ICE-Agenten nicht gilt, ist der erste umstritten. ICE-Personal trägt in der Regel keine Uniform oder kennzeichnende Kleidung – sehr wohl aber Ausrüstung. Auch US-Experten, -Medien und ehemalige Mitarbeiter sind sich uneins, ob der komplette Schutz der Identität der Agentinnen sich noch im legalen Rahmen bewegt.
Während der rechtliche Rahmen unklar bleibt, sind die negativen Konsequenzen einfacher fassbar: Mangelnde Transparenz und Rechenschaftspflicht der Behörden fördern Machtmissbrauch. Die Polizeieinsätze während der «Black Lives Matter»-Proteste in New York 2020 sind dafür das jüngste Exempel. Damals wurden bei 146 Polizisten Verletzungen der Dienstpflicht festgestellt. Mehrheitlich wegen übermässiger Gewaltanwendung und unsachgemässer Verwendung von Pfeffersprays und Schlagstöcken. Doch dies ist nur die Spitze des Eisberges. ABC berichtet von hunderten Fällen, die nicht untersucht werden konnten. Warum? Weil viele New Yorker Polizeibeamte während ihrer Einsätze bei den Demonstrationen die Dienstnummern ihrer Erkennungsmarken abklebten. Ihre Identifikation war nicht mehr möglich. So wie auch die Identität der ICE-Agenten geschützt bleibt.
Übermässige Gewaltanwendung kann man auch beim Fall Barranco beobachten. Während der wehrlose Mann von zwei schweren Männern auf den Boden gedrückt wird, schlägt ihm ein unbekannter Beamter mehrmals heftig ins Gesicht. «In der Armee würde es sich um ein Kriegsverbrechen handeln», kommentierte sein Sohn die Szene. Doch auch einem neutralen Beobachter wird ersichtlich, dass das notwendige Mass an Gewalt deutlich überschritten wird.
Doch die komplette Anonymität der Beamten birgt weitere Probleme: Sie lädt Unbefugte zur Nachahmung ein. Im Januar wurde ein Mann in North Carolina verhaftet. Er gab sich als ICE-Agent aus und belästigte danach eine Frau sexuell. Im April tarnte sich eine Frau als ICE-Agentin, um die Ehefrau ihres Ex-Freundes zu entführen. Im Juni überfiel ein Mann in Philadelphia ein Autoreparaturgeschäft gleich neben einer Polizeistation. Auch er gab sich als ICE-Agent aus. Bereits im Februar berichtete CNN von mindestens drei Fällen, bei denen sich Kriminelle als ICE-Agenten ausgaben. Die Zahl dürfte seither gewachsen sein.
Gewachsen ist auch die Verunsicherung der Zivilbevölkerung – und die unnötige Bürokratie. Alleine in Los Angeles wurden in den letzten Wochen mindestens 6 Kidnappings gemeldet, die sich als ICE-Operationen herausstellten. In einem Fall, als die Polizei ausrückte und ICE vor aufgebrachten Bürgern beschützte, stellte sich heraus, dass es sich bei der Verhafteten um eine US-Bürgerin handelt.
Dass es zu solchen Verwechslungen kommt, ist auch dem Druck geschuldet, den Präsident Trump auf die Ausschaffungsbehörde ausübt. Die Regierung verlangt landesweit 3000 Verhaftungen pro Tag. Im Juni (Stand am 24. Juni) schaffte ICE im Durchschnitt aber nur 1200. Um die geforderte Anzahl zu erreichen, wird ICE erfinderisch. Neu tauchen die Agenten vermehrt bei Anhörungen auf, die Teil des normalen US-Asylverfahrens sind. Nach ihrer Anhörung werden die Flüchtlinge direkt von ICE abgeführt. Dass es sich dabei nicht um die Kriminellen handelt, die Trump auszuschaffen versprach, ist offensichtlich.
Obwohl ICE die verlangten Zahlen nicht erreicht, sind die Ausschaffungsgefängnisse bereits zu 40 Prozent überfüllt. Die «Big Beautiful Bill» soll Abhilfe schaffen. Darin vorgesehen sind 45 Milliarden für den Bau neuer Ausschaffungsgefängnisse. Damit soll das Kontingent von 41’500 auf 116’000 Insassen aufgestockt werden. 30 weitere Milliarden gibt es für mehr ICE-Personal. Damit noch mehr rechtschaffene Gärtner wie Narciso Barranco ausgeschafft werden können.
- NSDAP Sturmabteilung (SA) 1937