Panorama
Lifestyle

Wenn schon der Thiel Irokesen trägt, ist die Glaubwürdigkeit dieser einst noblen Haarpracht im Eimer

Vom Rebell zum Geck

Wenn schon der Thiel Irokesen trägt, ist die Glaubwürdigkeit dieser einst noblen Haarpracht im Eimer

Früher war sie die Haarpracht stolzer Indianer-Krieger, danach Symbol der Punk-Rebellion. Heute tragen Fussball spielende Gecks und Krawatten-Dandys Irokesen-Frisur.
20.04.2014, 19:1723.06.2014, 14:14
Oliver Baroni
Folge mir
Mehr «Panorama»

London im Februar 2009: Mein Sohn war elf Jahre alt und gerade dabei, seinen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln: Die Punk-Alben des Vaters standen damals hoch im Kurs. Wir bestiegen einen Bus und kauften beim Chauffeur die Tickets. 

Ein Bild für die Götter

Aber nicht bei irgendeinem Londoner Busfahrer, nein, bei einem Punkrock-Chauffeur: Die Arme bis unten tätowiert und mit einer imposanten, perfekt frisierten Irokesenfrisur auf dem Haupt. (Das weisse Uniformhemd der ÖV-Betriebe war dennoch tadellos gebügelt.) Aus einem Böxchen, das in seinem iPod eingestöpselt war, polterte etwas, das sich verdächtig nach Sham 69 anhörte – in sehr dezenter Lautstärke, weil wohl nicht ganz konform mit den Vorschriften.

Bild
Bild: Rancid

Die Irokesen- oder Mohikaner-Frisur gilt zu Recht als eine der klassischen historischen Haupthaar-Frisuren. In ihrer Radikalität sucht sie ihresgleichen, denn jemand, der einen solchen Kopfschmuck wählt, will sagen, dass ihm die eigene Individualität wichtiger ist als die dadurch entstehenden gesellschaftlichen Nachteile. Kaum ein anderer Schnitt sagt deutlicher: «Leg dich nicht mit mir an.» Das gilt auch für Londoner Buschauffeure. 

Oben pink, innen rechts

1955 wurde man gemobbt oder gar verfolgt, wenn die Tolle ein klein wenig zu lang war oder man sich mit einer Lederjacke in der Öffentlichkeit zeigte. Heute kann man in dieser Aufmachung zu einem Vorstellungsgespräch gehen und erwarten, dass man ernst genommen wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Irokesen-Kamm: Er gilt vielleicht als etwas jugendlich, doch schockieren tut er niemanden mehr. 

Und spätestens seit unser unlustiger Lustigmacher Andreas Thiel sich mit rosa Kamm seinem konservativen Publikum stellt, darf man wahrlich von einem Status-Zerfall dieser Haarpracht sprechen. 

Andreas Thiel an der Delegiertenversammlung der FDP: «Radikale Rebellion»  mit Iro und Krawatte.
Andreas Thiel an der Delegiertenversammlung der FDP: «Radikale Rebellion»  mit Iro und Krawatte.Bild: KEYSTONE

Doch die Glaubwürdigkeit der Mohikanerfrisur ist seit Längerem im Eimer. Spätestens seitdem sie von Fussballern als (weitere) Möglichkeit entdeckt wurde, optische Fouls zu begehen:

Dabei hat der «Iro» eine edle Geschichte. Sie war die bevorzugte Haarpracht der männlichen Mitglieder des Mohawk-Stamms im nordamerikanischen Nordosten. Sie sind eine der sechs Indian Nations der Irokesen-Konföderation. Im englischen Sprachgebrauch wird die Frisur meistens auch als «Mohawk» bezeichnet. 

Mohawk, Mahican oder Mohegan? 
Der Mohawk-Stamm gehört zur irokesischen Sprachgruppe, während die oftmals mit ihm verwechselten Mahican- und Mohegan-Stämme Neuenglands zur Algonkin-Sprachgruppe gehören. Die Mohikaner aus James Fenimore Coopers Roman aus dem Jahr 1826 «Der letzte Mohikaner» sind hingegen ein fiktiver Stamm, wenn auch erheblich durch die zeitgenössische Wahrnehmung der Mohawks inspiriert, Frisur inklusive.  
Der heutige ‹mohican haircut›, hingegen, ähnelt viel mehr der Haartracht der Pawnee-Indianer des mittleren Westens.  

Die Indianer selbst bezeichnen sie als Skalp-Verschluss (scalp lock), weil das Fehlen des Stirnhaars dem Feind das Skalpieren erschwerte. Hygienische Gründe waren ebenfalls ausschlaggebend: Im stark bewaldeten Stammesgebiet der Mohawks galt es, Zecken vorzubeugen. 

Vor allem aber wurde die Frisur von Kriegern getragen. Und dieser Nimbus des Kämpfers, der zugleich auch Underdog ist, haftet dem Irokesen-Kamm immer noch an. Ein klassischer Rebell also, der ultimative Stinkefinger an den Mainstream. Umso bedauerlicher, dass sie nun vom Mainstream überflutet wird. 

Mohikaner mit Stil: Eine Galerie

Mohawk-Indianer in der zeitgenössischen Wahrnehmung: «The Abduction of Daniel Boone's Daughter by the Indians» von Karl Ferdinand Wimar (1828–1862).
Mohawk-Indianer in der zeitgenössischen Wahrnehmung: «The Abduction of Daniel Boone's Daughter by the Indians» von Karl Ferdinand Wimar (1828–1862).Bild: WikiCommons
Pawnee-Krieger, 1861.
Pawnee-Krieger, 1861.Bild: WikiCommons
«The Pawnee».
«The Pawnee».Bild: James Bama via American Gallery
Männer der 101. Luftlandedivision der US Army beim Auftragen von Mohawk-Kriegsbemalung, kurz vor der Normandie-Invasion.
Männer der 101. Luftlandedivision der US Army beim Auftragen von Mohawk-Kriegsbemalung, kurz vor der Normandie-Invasion.Bild: WikiCommons

Schauspieler Wes Studi als Magua in «The Last of the Mohicans» (1992)

Animiertes GIFGIF abspielen
Habe Iro, drehe demnächst durch: Robert de Niro als Travis Bickle in «Taxi Driver» (1976).GIF: Giphy
Habe Iro, habe die Lage im Griff: Mr. T.
Habe Iro, habe die Lage im Griff: Mr. T.Bild: Science Blogs
Combat Rock: Joe Strummer von The Clash.
Combat Rock: Joe Strummer von The Clash.Bild: The Clash Blog
Wattie von The Exploited.
Wattie von The Exploited.Bild: Fotolog
So war das damals 1984 als Punk-Girl.
So war das damals 1984 als Punk-Girl.Bild: WikiCommons
Wendy O. Williams von The Plasmatics.
Wendy O. Williams von The Plasmatics.Bild: Elist10
Travis Barker von Blink 182.
Travis Barker von Blink 182.Bild: AP
Jazzlegende Sonny Rollins.
Jazzlegende Sonny Rollins.Bild: Irockjazz.com
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
7 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
7