Schweiz
Aargau

Brigitte Obrist wird die IV-Rente halbiert, nachdem sie zu viel getwittert hat

Kommunikation ist Brigitte Obrists Medizin.
Kommunikation ist Brigitte Obrists Medizin.bild: facebook/brigitte obrist

Warum einer Aargauerin die IV-Rente halbiert wird, nachdem sie zu viel getwittert hat

Brigitte Obrist ist aktiv auf Twitter und Facebook. Zu aktiv, finden einige und fragen sich, wie eine IV-Bezügerin den ganzen Tag vor dem PC sitzen kann. Sie beschweren sich bei den Behörden – mit fatalen Konsequenzen für Obrist.
04.11.2017, 18:38
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In ihrem Wohnkanton, dem Aargau, ist Brigitte Obrist bekannt als eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Vor zwei Jahren hat sie gegen ein Muslim-Inserat von der SVP Strafanzeige eingereicht. Über die Kantonsgrenze hinaus kennt man Obrist als ehemalige Bordellbetreiberin, AIDS-Hilfe-Projektleiterin und heutige Kämpferin für die Rechte von Sexarbeiterinnen. 

Mit fast allem in ihrem Leben geht Obrist offen um. Mit ihrer Vergangenheit als Prostituierte, mit ihrer Krankheit, den Cluster-Kopfschmerzen, und damit, dass sie seit 17 Jahren IV-Rente bezieht. Auf den sozialen Medien ist sie überaus aktiv. Auf Facebook teilt sie Artikel, die sie interessant findet, und diskutiert in den Kommentarspalten. Auf Twitter tippt sie manchmal einen kurzen Gedanken ein, mischt zuweilen aber auch eine politische Diskussion auf. In ihrem Blog verarbeitet sie ihre Schmerzanfälle in längeren Artikeln oder äussert in pointierten Texten Kritik an ihr nicht nahestehenden Parteien.

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bild: facebook/brigitte obrist

Dass eine IV-Bezügerin derart umtriebig sein kann, passt nicht in jedermanns Weltbild. Über die Jahre gehen mehrere Meldungen bei der Aargauer IV-Stelle ein, die darauf hinweisen, dass Obrist durchaus arbeiten könne, so aktiv sie sich auf den sozialen Medien gebe. 

Obrist erfährt von diesen Meldungen erst, als sie vor zwei Jahren aufgeboten wird, sich für die IV erneut abklären zu lassen. Ein neues Gutachten müsse erstellt werden, heisst es. Obrist verlangt Akteneinsicht und wundert sich: Gegen sie liegen Verdachtsmomente vor. 

In den Akten liest sie Erstaunliches. Dass die Aargauer IV-Stelle 2012 einen anonymen Anruf einer Frau entgegennahm. Diese habe sich darüber geärgert, dass Obrist mit ihren vermeintlichen Kopfschmerzen so aktiv vor dem PC sitzen und surfen könne. 

Aus den Akten von Brigitte Obrist.
Aus den Akten von Brigitte Obrist.bild: zvg

Eine zweite Meldung, ebenfalls anonym verfasst, erhielt die IV-Stelle Ende 2014. In dem Schreiben werden akribisch die Anzahl abgesetzter Tweets, Einträge auf Facebook und ein Auftritt im Schweizer Fernsehen von Obrist als Expertin für Sexarbeit aufgelistet.

«Kann diese Frau nicht einen Job annehmen, sei es Teilzeit oder Vollzeit, wenn sie doch permanent vor dem Computer sitzt?»
Anonym

«Wer so recherchieren, informieren, antworten kann, wer so viele Meinungen und Kritik ins Netz stellen kann, dem sollte es doch möglich sein, ein Stück des Einkommens selber zu erarbeiten!», ärgert sich die Verfasserin. 

Zugegebenermassen: Obrist sitzt oft vor dem PC. Tatsächlich hat sie auch schon viele Tweets abgesetzt, über 62'000 seit sie der Plattform 2011 beigetreten ist. Auch stimmt es, dass sie manchmal an Vorträge eingeladen wird, um über ihre Vergangenheit als Sexarbeiterin zu sprechen. Ist Obrist eine IV-Betrügerin?

Die Kopfschmerzen seien eigentlich nicht wirklich Schmerzen im Kopf, sagt sie. «Es sind mehr Gesichtsschmerzen, die hinter dem Auge sitzen. Es kommt von einer Sekunde auf die andere und fühlt sich an, als müsste ich ein Kind durch mein Auge gebären.» Cluster-Kopfschmerz ist eine seltene Krankheit, die in Attacken auftritt und äusserst schmerzhaft ist. Medizinisch gilt sie als unheilbar.

«Man entwickelt Strategien gegen den Schmerz. Entweder schlägt man seinen Kopf so lange gegen die Wand, bis man tot ist, oder man lenkt sich ab.»
Brigitte Obrist

Sie habe sich für Zweiteres entschieden. Ablenkung laufe bei ihr am besten über die Kommunikation. Kann sie aufgrund der Schmerzen nicht aus dem Haus, halte sie den Schwatz mit den Leuten halt online. «Habe ich Schmerzen, beginne ich in die Tasten zu hauen», sagt sie. 

Kurz bevor die Aargauer SVA Obrist zur stationären Begutachtung schickt, geht bei der Anstalt eine dritte Meldung gegen Obrist ein. Wieder ist sie anonym. 

Auszug aus den IV-Akten von Obrist.
Auszug aus den IV-Akten von Obrist.bild: zvg

Nachdem Obrist von den Mitteilungen erfahren hatte, habe sie begonnen, sich selbst zu zensieren. «Ich traute mich nicht mehr, im Internet zu surfen. Ich fühlte mich beobachtet, wenn ich meinen Briefkasten leerte. Ich ging nicht auf den Markt im Nachbarsdorf, weil man mir dann hätte anhängen können, dass ich ja noch normal gehen kann», sagt sie. 

Nach der Begutachtung erhält Obrist Anfang diese Woche eine Verfügung der IV: Ihr wird die Rente um die Hälfte gekürzt. 

Schlimmer als dieser Bescheid ist für Obrist der Inhalt des neuen Gutachtens. Die Behauptungen der anonymen Melder seien darin wie medizinische Berichte behandelt worden. Teilweise seien Passagen fast wörtlich dem Schreiben dieser Beanstander entnommen worden.

«Die Versicherte hat eine sehr gute Fähigkeit, die Social Media zu verfolgen und sich darin in vielfältiger Weise zu äussern.»
Gutachten von Brigitte Obrist

Oder: «Aktuelle Beispiele zeigen, dass die Versicherte in der Lage ist, an öffentlichen Veranstaltungen aufzutreten und vom Publikum interviewt zu werden.»

Alles in allem wird im Gutachten von einer Verbesserung des Gesundheitszustandes ausgegangen. Obrist könne im Dienstleistungssektor eine leichte körperliche Tätigkeit ausüben. 

Auf Twitter erhält Obrist Unterstützung von ihren Followern. Darunter Marie Baumann, die den Blog IV Info betreibt. Dort trägt sie Fälle und Berichterstattungen rund um das Thema Invalidität und Behinderung zusammen.

Beunruhigend findet Baumann, dass Missbrauchs-Verdachtsmomente den IV-Stellen anonym entgegengebracht werden können. Vor allem hinsichtlich des neuen Gesetzes zur Überwachung von IV-Bezügern, das derzeit ausgearbeitet werde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte die Schweiz im Februar 2016 in einem Urteil für ihre bisherige Praxis gerügt. Sozial-Detektive wurden bei Verdachtsmomenten aufgeboten und IV-Bezüger ausspioniert. Der EGMR sagte, dies sei ohne eine gesetzliche Grundlage nicht zulässig.

Derzeit ist der Bundesrat daran, einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Dieser sieht vor, dass künftig Personen per Video, Fotomaterial oder Tonaufnahmen überwacht werden dürfen.

«Aber von wem?», fragt sich Bloggerin Baumann. «Darf nun jeder einen IV-Bezüger filmen und Observationsmaterial sammeln?» Das geht gar nicht, findet sie. Vor allem müsse ein Versicherter auch gegen eine Person wegen übler Nachrede klagen können, wenn die Vorwürfe gegen ihn haltlos sind. Dafür brauche er aber den Namen des Anprangerers. 

Pierre Heusser, Anwalt für Sozialversicherungsrecht, sagt, ein Arzt müsse eine objektive medizinische Einschätzung der Bezüger vornehmen. «Natürlich darf er gewisse Hinweise von Drittpersonen bei seinen Untersuchungen mitberücksichtigen. Aber diese in einem Gutachten wörtlich zu übernehmen, geht nicht.»

Er kann sich vorstellen, dass jetzt, wo Sozial-Detektive nicht mehr erlaubt sind, auf andere Quellen zurückgegriffen wird. 

«Die Berichterstattung des Nachbars, sozusagen als Ersatz des Detektivs, könnte bei den IV-Stellen höher gewichtet werden.»
Anwalt Pierre Heusser

Dem widerspricht Linda Keller, Sprecherin der SVA Aargau. «Eine IV-Rente wird nie bloss aufgrund einer Verdachtsmeldung aufgehoben. Einem solchen Entscheid liegen vertiefte Abklärungen zu Grunde.» Grundsätzlich würde aber jede Verdachtsmeldung ernst genommen, auch wenn sie anonym erfolge. IV-Fachpersonen prüften dann, ob weitere Abklärungen aufgrund der Meldung notwendig seien. «Die Neubeurteilung der Arbeitsfähigkeit einer Person muss immer auch medizinisch fundiert sein», sagt Keller. 

Für Obrist ist diese Begründung nicht zulässig. In ihrem Gutachten werde ausgiebig auf die Argumente derjenigen Drittpersonen eingegangen, die sie bei der Behörde angeschwärzt hätten. «Meine Aktivitäten auf den sozialen Medien, der Umstand, dass ich trotz körperlicher Krankheit noch denken und schreiben kann, wird mir als Ressource ausgelegt», sagt sie.

Sie will gegen die Verfügung Beschwerde einreichen. Diese wird den Entscheid der IV-Stelle jedoch nicht aufschieben. Schon ab dem 1. Dezember wird Obrist nur noch die halbe Rente erhalten, sprich: 354 Franken im Monat.

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203 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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TheManoure
03.11.2017 15:49registriert Oktober 2017
Das eigentliche Problem ist doch, dass sich ein Taschengeld von keinen 400.- CHF eine Rente rühmen darf. Die ganzen Gutachten haben vermutlich mehr gekostet als die Dame in den nächsten 10 Jahren an Rente erhalten wird...
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domin272
03.11.2017 15:54registriert Juli 2016
Mir tun die Leute leid deren Leben so frustrierend und ereignislos sein muss, dass sie nichts anderes zu tun haben als Kranken Menschen nachzuspionieren und sie zu verurteilen, obwohl sie sie weder kennen, noch irgend einen blassen schimmer von ihrer Situation haben. An all diese Leute: "Seien Sie gottenfroh, wenn sie gesund sind, arbeiten können und nicht auf IV angewiesen sind. Hinter vielen Krankheiten stehen schweere Schicksale also ändern Sie lieber mal ihr eigenes Leben, anstatt das von kranken Menschen durch ihren Neid und die Unwissenheit noch schlimmer zu machen!".
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MikoGee
03.11.2017 15:50registriert April 2015
Wer IV-Rentner ist braucht ein Leben abseits der Diagnose. Ich gehe weiterhin 50% arbeiten und Frau Obrist lenkt sich ab indem sie soziale Missstände nennt und andere versucht aufzuklären, worin ich absolut nichts fragwürdiges sehe.
Ganz im Gegenteil: Wäre es denn besser wenn Sie sich Zuhause verkriecht, im eigenen Elend versinkt und sämtliche Produktivität einstellt? IV-Rentner zu sein ist sowieso schon ein riesen Stigma, dass sich niemand freiwillig aussucht. Wir können um jeden einzelnen froh sein, der/die trotz Diagnose ein Produktives Mitglied unserer Gesellschaft zu sein versucht.
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