Der Entscheid war Formsache: Eine «unheilige Allianz» aus SVP, Linken und Grünen versenkte am Freitag im Nationalrat die schrittweise Anpassung der Krankenkassen-Franchise für Erwachsene an die steigenden Gesundheitskosten. Geplant war eine Erhöhung um jeweils 50 Franken. Im Gegenzug sollte der Anstieg der Krankenkassenprämien gedämpft werden.
SP und Grüne waren stets gegen die Vorlage, sie wollten bei einer Annahme das Referendum ergreifen. Die SVP hingegen vollführte in der Frühjahrssession einen regelrechten Salto rückwärts. In der Debatte über das Gesetz hatte sie der Franchisenerhöhung zugestimmt. Dann entschied die Fraktion am Dienstag mit klarem Mehr, die Vorlage in der Schlussabstimmung zu bodigen.
«Die SVP-Fraktion hat jahrelang in den Hinterzimmern alles in Bewegung gesetzt, um die Franchisen zu erhöhen», lästerte SP-Fraktionschef Roger Nordmann. Nun habe sie «tiefgefrorene Füsse» bekommen. Sein SVP-Kollege Thomas Aeschi verwedelte die Kapriole seiner Partei mit Attacken auf die frühere SP-Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss und ihr Krankenversicherungsgesetz.
Es war nicht der einzige Franchisen-Salto der SVP in der Frühjahrssession. Zuvor hatte sie mitgeholfen, eine von der bürgerlichen Mehrheit der Gesundheitskommission beantragte Erhöhung der Mindestfranchise von 300 auf 500 Franken abzuschiessen. Der Schwyzer Ständerat Alex Kuprecht ärgerte sich in der NZZ über seine Partei: «Das hat allein mit den Wahlen zu tun.»
Damit traf er ins Schwarze: Kaum hat das Wahljahr begonnen, besinnt sich die SVP auf ihre Wählerschaft. Sie macht eine neoliberale Politik für die Reichen, ihre Basis aber besteht zum grossen Teil aus sozial schwächeren «Wutbürgern». Sie wählen die SVP wegen ihrer Ausländerpolitik, tendieren in sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen aber nach links.
Es ist der SVP nicht entgangen, dass für viele Schweizerinnen und Schweizer bei den Krankenkassenprämien eine Schmerzgrenze erreicht ist. Das Thema ist auf der Sorgenliste innerhalb kurzer Zeit ganz nach oben gerückt. Viele haben Mühe, die Prämien zu bezahlen. Oder sie wählen aus Spargründen eine hohe Franchise, die sie sich im Notfall nicht leisten können.
Häufig versuchen sie deshalb, Arztbesuche zu vermeiden. Es ist zynisch, wenn bürgerliche Politiker die höheren Franchisen damit begründen, die Leute sollten «nicht wegen jedem Bobo zum Doktor rennen». Was sie eigentlich meinen: Ihr seid selber schuld, wenn ihr krank werdet, verunfallt oder euch verprügeln lasst. Wenn ihr Kosten verursacht, müsst ihr die Rechnung bezahlen.
Dabei ist die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ein Prozess, an dem viele Faktoren beteiligt sind. Verantwortlich sind nicht nur die alternde Gesellschaft und der medizinische Fortschritt, sondern auch die Mengenausweitung aufgrund falscher Anreize. Das System erlaubt es den Akteuren, ihre Einnahmen zu maximieren auf dem Buckel der Prämienzahler und Patienten.
Im Prinzip hat Thomas Aeschi absolut recht, wenn er eine Gesamtschau fordert, bei der alle Akteure ihren Beitrag leisten müssten, «also auch Pharmaindustrie, Krankenkassen, Ärzte, Spitäler und Kantone». Und damit beginnt das Problem: Sie alle verfügen über mächtige und finanzstarke Lobbys im Parlament. Und sie alle finden, die anderen müssten mit Sparen anfangen.
In diesem Spannungsfeld befindet sich die Politik. Sie tut sich entsprechend schwer mit Reformen. Ein Beispiel ist die Finanzierung von Spitalleistungen. In den letzten Jahren wurden immer mehr ambulante statt stationäre Behandlungen vorgenommen. Das ist an sich sinnvoll, denn ambulante Leistungen sind günstiger. Aber sie werden vollständig von den Krankenkassen bezahlt, während bei längeren Spitalaufenthalten die Kantone einen Teil der Kosten tragen.
Seit fünf Jahren wird in der Gesundheitskommission des Nationalrats an einer einheitlichen Finanzierung gearbeitet. Damit könnte der Prämienanstieg gebremst werden, doch das Projekt steht laut «CH Media» zum wiederholten Mal am Abgrund. Verantwortlich dafür sei kein geringerer als SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Der Zuger Nationalrat wolle «das Projekt abwürgen».
«Auch das ist typisch für das Gesundheitswesen: Sobald es konkret wird, verflüchtigen sich die Mehrheiten», bringt es «CH Media» auf den Punkt. Also schraubt man lieber an den Franchisen, statt die Leistungserbringer in die Pflicht zu nehmen. Der Verdacht der Linken ist berechtigt, dass die Erhöhung nur bis nach den Wahlen aufgeschoben, aber nicht aufgehoben ist.
Dabei darf man durchaus die Leute in die Pflicht nehmen. Sie jammern über ständig steigende Prämien, verlangen aber das teure Originalmedikament statt das billigere Generikum und wehren sich gegen die Schliessung selbst unrentabler Regionalspitäler. Oder sie votieren für den Bau eines neuen Spitals, wie letztes Jahr in Appenzell Innerrhoden. Diese Rechnung geht einfach nicht auf.
Die SP wird nun auf ihre Volksinitiative setzen, die eine Beschränkung der Krankenkassenprämien auf zehn Prozent des Haushaltseinkommens verlangt. Die CVP, die sich am Freitag in gewohnter Manier um eine klare Stellungnahme herumgedrückt und mehrheitlich der Stimme enthalten hat, verlangt mit einer eigenen Initiative eine Kostenbremse im Gesundheitswesen.
Ob sich damit grundlegend etwas ändern wird, ist fraglich. Bei der SP-Initiative handelt es sich um reine Symptombekämpfung, beim Begehren der CVP stellt sich die Frage nach der Umsetzbarkeit. So lange der Wille fehlt, sich ernsthaft mit den Leistungserbringern anzulegen, ist die Gefahr nicht gebannt, dass das Schweizer Gesundheitswesen irgendwann gegen die Wand fährt.