Über die CVP lässt es sich leicht lästern. Die Partei befindet sich seit Jahren im Niedergang, eine Trendwende ist höchstens in Ansätzen erkennbar. Für einmal darf man den Christlichdemokraten aber ein Kränzlein winden. Mit der Volksinitiative für eine Kostenbremse im Gesundheitswesen, die sie an der Delegiertenversammlung am Samstag im zugerischen Cham präsentiert hat, trifft die CVP einen Nerv.
Der Anstieg der Gesundheitskosten und Krankenkassenprämien sei «das Sorgenthema Nummer eins» in der Bevölkerung, sagte Parteipräsident Gerhard Pfister. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. In der jüngsten Ausgabe des Zürcher Politbarometers, das von der NZZ und dem Forschungsinstitut Sotomo erhoben wird, stehen die Krankenkassenprämien an erster Stelle.
Bei der persönlichen Befindlichkeit wird das Thema noch höher eingestuft als bei der allgemeinen Beurteilung. Dafür mag es «externe» Gründe geben: Die Umfrage wurde Anfang Dezember 2017 durchgeführt, als die Prämienrechnung für das neue Jahr in die Briefkästen flatterte. Und bei anderen Sorgenthemen wie Arbeitslosigkeit und Zuwanderung hat sich die Lage entspannt.
Dennoch lässt es sich nicht bestreiten, dass bei den Krankenkassenprämien für viele eine Schmerzgrenze erreicht ist. Die letzte Woche vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Zahlen für 2016 sprechen für sich: Die Gesundheitsausgaben haben sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Sie betrugen 80.7 Milliarden Franken, was 803 Franken pro Person entspricht.
Lange gab es in der Schweiz eine Art stillschweigenden Pakt: Wir erhalten eine hochwertige medizinische Versorgung und schlucken dafür die stetig steigenden Prämien. Die Verbilligungen nahmen den grössten Druck aus dem System. Deshalb scheiterte auch die Linke mit ihren Initiativen für eine Einheitskasse oder einkommensabhängige Krankenkassenprämien.
Nun wackelt dieser «Pakt», und zwar bedenklich. Eine vierköpfige Familie zahle jährlich bis 20'000 Franken für die Krankenversicherung, erhielt man an der DV der CVP vorgerechnet. Das ist für den Mittelstand zunehmend untragbar. Als Folge davon zahlen immer mehr Menschen die Prämien gar nicht, oder sie wählen eine hohe Franchise, die sie sich im Notfall nicht leisten können.
«Wir haben ein gutes, aber zu teures Gesundheitswesen», klagte die Aargauer Nationalrätin Ruth Humbel. Noch deutlichere Worte wählte Pascal Strupler, der Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG), im Interview mit watson: «Wenn wir jetzt nichts Entscheidendes unternehmen, besteht die Gefahr, dass wir unser Gesundheitssystem an die Wand fahren.»
Über die Diagnose ist man sich weitgehend einig, ebenso über die Ursachen der Kostenexplosion. Da ist zum einen die Demographie: Immer mehr Menschen in der Schweiz werden immer älter. Hinzu kommt der medizinische Fortschritt. Häufig ausgeblendet wird ein weiterer Punkt: Das heutige System setzt falsche Anreize. Je mehr man anbietet, umso mehr profitiert man.
Im Schweizer Gesundheitswesen mischen zu viele Parteien mit, die ihre Pfründe mit Klauen, Zähnen und Hellebarden verteidigen. «Wir müssen an allen Ecken des Gesundheitssystems ansetzen und alle Akteure in die Pflicht nehmen: Spitäler, Ärzte, Kantone, den Bund, die Versicherer und letztendlich auch die Patienten», sagt BAG-Chef Strupler. Das klingt so weit gut.
Am Samstag in Cham gab es nur drei Wortmeldungen zur CVP-Initiative, aber die hatten es in sich. Der Zuger Gesundheitsdirektor Martin Pfister sprach sich für die Kostenbremse aus, liess aber durchblicken, dass der «schwarze Peter» nicht an die Kantone gehen dürfe. Worauf eine Delegierte aus dem Aargau schimpfte, die Kantone hätten «ihre Verantwortung nicht wahrgenommen».
Das wiederum liess der Tessiner Regierungsrat Paolo Beltraminelli nicht auf sich sitzen: «Gesundheitsdirektoren sind die unbeliebtesten Regierungsräte. Wenn einer abgewählt wird, ist es zu 90 Prozent der Gesundheitsdirektor.» Das musste Anton Grüninger – ein CVP-Mann – 2004 in St.Gallen erfahren. Er wollte Regionalspitäler schliessen und bezahlte dafür mit der Abwahl.
Solche Erfahrungen dämpfen den Reformwillen. Dazu sind die verschiedenen Interessengruppen sehr gut organisiert, sie verfügen über eine grosse Lobbymacht in der Politik.
Sie müssen die Prämien einziehen und sind damit der liebste Prügelknabe im Gesundheitswesen. Daran sind sie nicht unschuldig. Zwar ist die Jagd nach «guten Risiken», die überspitzt gesagt nur einzahlen und nichts beziehen, zunehmend unattraktiv geworden. Aber noch immer zahlen sie Erfolgsprämien für dubiose Makler, die mit ihrem «Telefonterror» die Bevölkerung nerven.
Und zu oft begnügen sie sich mit Symptombekämpfung. Dafür steht etwa der kontroverse Vorschlag von CSS-Chefin Philomena Colatrella für eine Mindestfranchise von 5000 oder gar 10'000 Franken. Er ist nicht nur chancenlos, sondern suggeriert auch, dass die Krankenkassen lieber auf ihre Versicherten «losgehen», statt die Leistungserbringer in die Pflicht zu nehmen.
Sie verfügt über viel Macht und wehrt sich mit der «Arbeitsplatzkeule» regelmässig gegen eine Senkung der hohen Medikamentenpreise. In der Regel hat sie damit Erfolg. Ein zaghafter Versuch von Gesundheitsminister Alain Berset, Parallelimporte vom Medikamenten zuzulassen, scheiterte laut «Tages-Anzeiger» bereits an der bürgerlichen Mehrheit im Bundesrat.
Sie wehrt sich gegen jegliche Einschränkung der freien Arztwahl und hat in einer «diabolischen» Allianz mit der Linken 2012 die moderate Managed-Care-Vorlage zu Fall gebracht. Auch beim Ärztetarif Tarmed bremsen die Mediziner. «Wenn ihr die Tarife senkt, erhöhen wir die Menge», zitierte CVP-Ständerat Erich Ettlin am Samstag namentlich nicht genannte Ärzte.
«Das ist Körperverletzung!», schimpfte der Obwaldner. Tatsächlich verstossen unnötige Behandlungen gegen das ärztliche Berufsethos. Dennoch sind solche Praktiken fast schon Alltag. In der Schweiz werden mehr Hüft- und Knieoperationen vorgenommen als im übrigen Europa. Dabei wäre eine «konservative» Behandlung bei Kniebeschwerden oft ebenso wirksam und vor allem günstiger.
Die Schweiz hat die höchste Spitaldichte in Europa. Eine Bereinigung wäre problemlos möglich, doch oft leistet die Bevölkerung wie erwähnt Widerstand. Und die Spitäler selbst kämpfen nicht nur gegen ihre Schliessung, sie leisten sich auch einen «Rüstungswettlauf». Alle wollen möglichst alles anbieten, auch wenn es die Fallzahlen nicht rechtfertigen.
Die Kantone lassen es zu oft geschehen, das zeigt das Trauerspiel um die Herztransplantationen. In der Schweiz gibt es jährlich 30 bis 40 Fälle, weshalb Experten eine Konzentration an einem Standort vorschlugen, genauer am Inselspital in Bern. Die Universitätskliniken in Lausanne und Zürich aber wehrten sich erbittert und letztlich erfolgreich für ihre Transplantationsmedizin.
Der Zürcher FDP-Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger will immerhin Mindestfallzahlen einführen, um Gelegenheitsoperationen zu verhindern, was Patientenschützer ausdrücklich begrüssen. «In der kleinräumigen Schweiz braucht es nicht überall alles. Nur im Notfall muss man schnell in einem Spital sein», sagte Heiniger im Interview mit der Schweiz am Wochenende.
So weit, so logisch. Ausser für die Anbieter. Zehn Zürcher Regionalspitäler haben Klage gegen die Mindestfallzahlen eingereicht. Das illustriert die ganze Misere in der Schweizer Gesundheitspolitik: Alle finden, es müsse gespart werden. Und alle finden, der andere müsse damit anfangen.
Das Schweizer Gesundheitswesen liegt nicht auf der Intensivstation, wie es die SRF-«Arena» in gewohnt reisserischer Manier angekündigt hat. Aber es siecht vor sich hin und wird immer kränker. Daran wird auch die CVP-Initiative für eine Kostenbremse kaum etwas ändern. Konkrete Massnahmen enthält sie nicht, und weil die Schweiz kein Verfassungsgericht kennt, besteht die Gefahr, dass sie toter Buchstabe bleibt.
Als Druckmittel könnte sie etwas bewirken, aber ein Wundermittel ist sie nicht. Mehr ausrichten könnten die Patienten oder Prämienzahler, indem sie nicht jede ärztliche Behandlung einfach schlucken, das Generikum dem teuren Originalmedikament vorziehen oder für eine Operation einen längeren Weg in Kauf nehmen, etwa von St.Gallen nach Bern.
Allerdings könnten die steigenden Prämien auch einen fatalen Reflex bewirken: Je mehr wir zahlen, umso mehr wollen wir herausholen. So hält laut Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor an der freien Arztwahl fest, obwohl ebenfalls eine Mehrheit aus Spargründen ein Versicherungsmodell wie HMO oder Telemedizin gewählt hat, das diese Wahlfreiheit einschränkt.
Für Pascal Strupler vom BAG kann es ohnehin nur darum gehen, den Schaden zu begrenzen: «Dass die Prämien sinken, ist nicht realistisch.» Die Gefahr ist nicht gebannt, dass das System irgendwann gegen die Wand fährt.