Manchmal öffnet sich der Impfgraben bei Ehepaaren, wie dieses Beispiel aus dem Kanton Aargau zeigt. Er, 73-jährig mit Vorerkrankungen, hat die nötigen zwei Dosen für den Schutz vor dem Coronavirus erhalten. Sie, zwei Jahre jünger und gesund, muss sich noch gedulden. Ein Grund dafür sind die Engpässe bei den Lieferungen.
Wie der «Tages-Anzeiger» berichtete, trafen bis Ende Februar bloss knapp 1,2 anstatt 1,6 Millionen Impfdosen ein, mit denen der Bund noch Ende letzten Jahres kalkulierte. Damit zögert sich die Immunisierung der Risikogruppen hinaus. Der Kanton Bern zum Beispiel hat bis jetzt Personen über 75 Jahre, das Pflegepersonal und das Gesundheitspersonal geimpft, das sich um Covid-19-Patienten kümmert. Mitte März hätte Bern beginnen wollen, Personen mit chronischen Krankheiten mit dem höchsten Risiko zu impfen, unabhängig vom Alter. Durch die Lieferverspätung wird es jetzt Anfang April.
Insgesamt hat der Bund mit fünf Impfstoffherstellen Verträge für die Lieferung von 32,8 Millionen Dosen abgeschlossen. Zugelassen sind bis jetzt nur die Produkte von Moderna (13,5 Millionen Dosen) und Pfizer/Biontech (drei Millionen Dosen). Die grossen Mengen sollen ab Mai/Juni eintreffen. Die Kantone verfügen gemäss Recherchen unserer Zeitung über genügend Kapazitäten, den Impfstoff auch zu verabreichen. Das Impfen ist ein wichtiger Pfeiler auf dem Weg zur Rückkehr in die Normalität.
Trotz holprigem Start der Impfkampagne versprüht Gesundheitsminister Alain Berset Optimismus. Bis Ende Juni oder Anfang Juli, sagte er am Dienstag, als er den Kanton Zürich besuchte, seien alle Personen geimpft, die das wünschten.
Das Bundesamt für Gesundheit setzt sogar noch höhere Ziele: Bis Ende Juni sollen alle Impfwilligen zwei Spritzen gegen Covid-19 erhalten haben. Im Kontrast zur Zuversicht aus der Bundeshauptstadt steht die Einschätzung des Kantons Luzern. Er hat vor einer Woche bekannt gegeben, dass alle impfbereiten Bewohner erst bis Ende September geimpft sein werden. Auch die Zürcher Gesundheitsdirektoren Natalie Rickli dämpft die Euphorie. Die Kommunikationsstelle des grössten Kantons lässt ausrichten: «Für eine Durchimpfung der breiten Bevölkerung bis Ende Juni/Anfang Juli hat es Stand heute zu wenig Impfstoff.»
Eine Umfrage bei allen Schweizer Kantonen offenbart: Insgesamt sieben Kantone rechnen damit, dass sämtliche Impfwilligen erst bis August, September oder gar Oktober an der Reihe sein werden (siehe Tabelle). Die Kantone weisen darauf hin, aufgrund von diversen Unwägbarkeiten sei eine genaue Prognose grundsätzlich schwierig. Aber auch viele von jenen, die kein Datum zu nennen wagen, wittern in Bersets Szenario eher Wunschdenken, wie etwa Neuenburg oder Jura. Andererseits erachten drei Kantone, darunter Genf, Bersets Impfkalender für machbar.
Zweifel an Bersets Impffahrplan hegen nicht nur diverse Kantone. Im Mai und Juni könnten zwar voraussichtlich sehr viele Personen geimpft werden, sagt Christoph Berger. Der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen ergänzt aber: «Es scheint mir realistisch, dass bis Mitte August alle Personen geimpft sein werden, die das wünschen. Es sei denn, es gibt unerwartete Verzögerungen bei der Lieferung des Impfstoffs.»
Rudolf Hauri, Zuger Kantonsarzt und Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte, teilt Bergers Einschätzung: «Wir streben eine möglichst breite Durchimpfung bis in den Sommer an. Da es sich aber um ein sehr komplexes Projekt handelt, das letztlich von vielen Faktoren abhängt, können die Impfungen sämtlicher Impfwilligen bis in den Herbst hinein dauern.»
Es liegt auf der Hand, dass die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus stärker gelockert werden können, je mehr Personen geimpft sind. Econonomiesuisse missfallen die möglichen Verzögerungen. «Das ist schlecht für die Wirtschaft. Je mehr Personen gegen das Coronavirus geschützt sind, desto weniger strikte Massnahmen braucht es», sagt Roger Wehrli, stellvertretender Leiter allgemeine Wirtschaftspolitik. Die Lockdown-Ausstiegsstrategie des Wirtschaftsdachverbandes fusst zu einem bedeutenden Teil auf den Immunisierungsgrad der Bevölkerung.
Immerhin: Wie Rudolf Hauri sagt, ist die «konsequente Impfung» der Risikopersonen auf gutem Weg. Das sei wesentlich, um die Belastung des Gesundheitssystems zu verringern. «Somit ist es für Änderungen von Massnahmen im Sinne von Lockerungen nicht ausschlaggebend, dass sämtliche impfwilligen Personen bereits auf einen bestimmten Zeitpunkt hin geimpft sind.»
Hauri erinnert daran, dass die Impfungen ein Element von mehreren zur Pandemiebekämpfung sind – neben ausgedehntem Testen sowie der damit verbundenen Isolation und Quarantäne. Und: «Grosse Bedeutung haben auch das Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln sowie die Schutzkonzepte inklusive Maskentragen.»