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8 Femizide in der Schweiz – Politische Trägheit tötet Frauen

Eine Demonstrantin traegt ein "Stop Femizid" Plakat waehrend einer nationalen Demonstration gegen Gewalt an Frauen, am Samstag, 23. November 2024 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Frauenfeindliche Gewalt ist noch immer ein grosses gesellschaftliches Problem.Bild: keystone

8 Femizide in der Schweiz – Politische Trägheit tötet Frauen

Seit Anfang des Jahres sind bereits acht Frauen ermordet worden, weil sie Frauen sind. Das ist ein Femizid pro Woche. Doch was macht die Politik, um Frauen besser vor Gewalt zu schützen? Ein Blick auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention und die Finanzierung von Schutzstrukturen.
08.03.2025, 10:2208.03.2025, 15:15
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Am 11. Mai 2015 wird die Leiche von Chiara Paez in Argentinien gefunden. Sie wurde von ihrem Freund umgebracht, weil sie nicht abtreiben wollte. Ermordet aufgrund ihres Geschlechts – ein Femizid. Wenige Wochen später gehen am 3. Juni 200'000 Menschen in Buenos Aires auf die Strasse, um sich gegen Femizide und systematische Gewalt an Frauen zu stellen. Auf Bannern und Pins steht der Kampfschrei und Name der Bewegung Ni Una Menos (nicht eine weniger).

Not One Less - 03/06/2015 - Argentina / Buenos Aires - Not One Less is a collective cry against gender violence. It arose from the need to say enough femicide because in Argentina every 30 hours kille ...
Demonstration in Buenos Aires am 3. Juni 2015.Bild: imago stock&people

Die Bewegung schwappt auch in die Schweiz über. Seit 2019 gibt es das gleichnamige Kollektiv in Zürich, in dem sich Menschen organisieren, um aktiv auf Fälle von Femiziden aufmerksam zu machen und strukturelle Gewalt zu beleuchten. Seit Beginn des Jahres wurden bereits acht Fälle von Femiziden aufgezeichnet. Ein Femizid pro Woche. Ohne diese zivilen Strukturen könnten wir hier keine Zahlen zu Femiziden ausweisen, denn weder Gemeinden, Kantone noch der Bund weisen Femizide in der Kriminalstatistik aus, wie dies 16 EU-Länder seit 2016 tun.

Die Lage in der Schweiz

Was in der Kriminalstatistik jedoch aufgelistet wird, sind Fälle sexualisierter Gewalt. In der Kriminalstatistik vom Jahr 2023 ist zwar ein kleiner Rückgang der erfassten Fälle von sexualisierter Gewalt zu erkennen, doch das Niveau bleibt auf der gleichen Höhe wie während der Corona-Pandemie. Die häufigste Form von sexualisierter Gewalt, die von der Polizei erfasst wurde, ist sexuelle Belästigung mit 1575 gemeldeten Fällen.

Die Daten zu sexualisierter Gewalt sind bekanntlich schwierig einzuschätzen. Zum einen gibt es eine klare Zunahme seit 2009, was die von der Polizei erfassten Fälle von sexualisierter Gewalt angeht. Zum anderen ist die Interpretation, warum die Zahlen steigen, komplex – und paradox. Ein Grund für den Anstieg kann eine tatsächliche Zunahme der Fälle von sexualisierter Gewalt sein. Doch es gilt dabei zu beachten, dass mithilfe von Sensibilisierung durch Präventions- und Aufklärungskampagnen mehr sexualisierte Gewalt gemeldet wird. Das ist zwar eine wichtige Entwicklung, führt aber auch dazu, dass die Fälle in der Statistik zunehmen.

Bei dem Geschlecht der geschädigten Personen ist die Datenlage klarer: Mehr als 85 Prozent der von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen sind Frauen. Doch was wird unternommen, um Frauen besser zu schützen?

Die To-do-Liste der Staaten

Am 1. April 2018 ist die Schweiz der Istanbul-Konvention beigetreten. Das Übereinkommen des Europarats soll zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt beitragen. Damit verpflichtet sich der Staat dazu, Massnahmen gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt sowie für die Gleichstellung der Geschlechter zu ergreifen.

«Die Istanbul-Konvention ist eine enorm wichtige Grundlage für die Bekämpfung von geschlechtsbezogener Gewalt. Sie bietet klare und konkrete Forderungen und Massnahmen. Es ist eine Art ‹To-do-Liste› für einen Staat», sagt Blertë Berisha, Co-Geschäftsleiterin der Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein.

Ein verzeichneter Erfolg der Istanbul-Konvention ist die parlamentarische Zustimmung für die Einrichtung von Krisenzentren gegen Gewalt. Opfer von sexualisierter, häuslicher oder geschlechtsbezogener Gewalt finden in den Zentren niederschwellige, spezialisierte medizinische und psychologische Soforthilfe. «Normalerweise wird in einem Spital oder in der Permanence immer auch die Polizei miteinbezogen und eine Strafanzeige gestellt», erklärt Julia Meier, Verantwortliche für politische Arbeit bei der NGO Brava, im Gespräch mit watson. «Die Hürde ist dadurch viel grösser für Opfer von sexualisierter Gewalt, Hilfe zu suchen.» In der Frühlingssession 2023 hat es der Ständerat dem Nationalrat gleichgetan und die Vorstösse angenommen. Für die Umsetzung sind nun der Bund und die Kantone zuständig.

Als weitere Verbesserung nennt Julia Meier die Anpassung von AIG 50. Menschen mit Migrationshintergrund, gerade Frauen, sind überproportional stark von Gewalt betroffen. Die Gründe dafür sind vielseitig, nebst sozialer Ausgrenzung, unsicherer finanzieller Lage und rassistischer Diskriminierung gibt es auch rechtliche Abhängigkeiten. 69 Prozent der Frauen, die Schutz in einem Frauenhaus suchen, haben einen Migrationshintergrund.

Im spezifischen Fall des Familiennachzugs konnte die rechtliche Situation jedoch verbessert werden. Viele Menschen, die ihren Ehepartnern in die Schweiz folgen, finden sich durch die rechtliche Handhabung plötzlich in starker Abhängigkeit von ihrem Partner, da ihr Aufenthaltsstatus während drei Jahren an die Ehe geknüpft ist. Personen müssen in der Ehe bleiben, selbst wenn es innerhalb der Partnerschaft zu Gewalt kommt. Da sie Angst haben, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, suchen sie seltener Hilfe. Seit der Annahme des AIG 50, welches die Härtefallklausel anpasst, kann neu eine Familiengemeinschaft aufgelöst werden, wenn häusliche Gewalt nachgewiesen werden kann.

Grosse Präventionskampagne

Im Herbst 2025 lanciert die erste nationale Präventionskampagne. In deren Rahmen wird eine dreistellige Notfallnummer für Betroffene von Gewalt eingerichtet.

Die tatsächliche Umsetzung der Hotline hat der Bund an die Kantone abgeschoben, es gibt somit keine einheitliche nationale Lösung. Bei der Umsetzung kommt es bereits zu ersten Reibereien. Im Kanton Bern wurde die 2019 etablierte und von den drei Frauenhäusern des Kantons aufgebaute spezialisierte Hotline «appElle!» kurzerhand vom Kanton für eine andere Lösung übergangen, wie eine Recherche der «WOZ» zeigt. Das Problem sieht Julia Meier bei der Art und Weise, wie Lösungen angegangen werden: «Es wird leider oft nur in Teilaspekten gedacht. Eine nationale Präventionskampagne ist ein grosser Sieg, doch wenn dann keine Gelder in Schutzstrukturen fliessen, tun diese nur wenig für den Schutz von Frauen.»

Unterfinanziert und überbesetzt

Gerade bei bestehenden Strukturen wie den Frauenhäusern gibt es klar ersichtlichen Handlungsbedarf. Die Schweiz zählt 22 Frauenhäuser mit insgesamt 213 Familienzimmern (2023). Nach der Istanbul-Konvention sollte mindestens ein Familienzimmer pro 10'000 Einwohnerinnen und Einwohnern zur Verfügung gestellt werden – die Schweiz erfüllt mit 0,24 Zimmern nicht einmal ein Viertel der Empfehlung. «Die Schweiz wurde von GREVIO gerügt und wird es vermutlich wieder werden. Ebenso sieht es zurzeit nicht gerade so aus, als würde häusliche Gewalt sinken», sagt Blertë Berisha.

GREVIO
Die «Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence», kurz GREVIO, ist für die Evaluationsberichte zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zuständig.

Allerdings hat sich die Situation seit 2019 verbessert. Die Anzahl der Frauenhäuser ist seither von 18 auf 22 gestiegen und die verfügbaren Zimmer von 134 auf 213. Dennoch kratzt die Auslastung der Frauenhäuser immer noch an der oberen Grenze des Tragbaren. Eine Analyse zu Schutz- und Notunterkünften der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK zeigt, dass die durchschnittliche schweizweite Auslastung der Frauenhäuser bei 76 Prozent liegt.

Das erscheint auf den ersten Blick nicht sehr drastisch, doch gilt es zu bedenken, dass Frauenhäuser auch eine Krisenfunktion haben. «Die SODK empfiehlt eine jährliche durchschnittliche Auslastung von 75 Prozent und diese nicht zu überschreiten. Die 75 Prozent klingen nicht so voll, damit ist aber gemeint, dass jeweils ein Zimmer frei sein muss – ein Notzimmer –, damit ein Frauenhaus als ein stationäres Kriseninterventionsangebot seinen Auftrag angemessen erfüllen kann», erklärt Co-Geschäftsleiterin der DAO, Blertë Berisha, die Daten zur Auslastung. Zudem ist die Aufenthaltsdauer in den letzten Jahren stark angestiegen.

Als Grund für die längere Aufenthaltsdauer nennt die DAO in einer Medienmitteilung vom Juni auch die Wohnungskrise, die es schwieriger macht, bezahlbare und sichere Anschlusslösungen zu finden. Sie nimmt aber auch die Behörden in die Verantwortung, die trotz zunehmender Sensibilisierung für häusliche Gewalt und der steigenden Zahl an Hilfesuchenden nicht schnell genug reagieren.

Am Schluss braucht es mehr Geld

Einige konkrete Lösungsansätze zum verbesserten Schutz von Frauen liegen beim Bund und den Kantonen bereit zur Umsetzung oder sind in der Realisierung. Doch es fehlt immer noch an einer Ressource spezifisch: «Es scheitert sehr oft am Geld», sagt Julia Meier. Daher fordert Brava zusammen mit Campax, SP und weiteren Organisationen nun, dass 350 Millionen Franken in den Schutz von Frauen investiert werden sollen.

Ähnlich klingt es von Blertë Berisha zur finanziellen Lage der Frauenhäuser: «Die Finanzierung und die Ressourcen der Frauenhäuser sind teilweise sehr prekär. Die Frauenhäuser brauchen eine solide und nachhaltige Finanzierung, um ihren Auftrag und ihren Zweck erfüllen zu können. Dies gilt sowohl für die personellen Ressourcen als auch für die finanziellen Ressourcen.»

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111 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RedLily74
08.03.2025 11:16registriert April 2022
Ich habe Mühe mit der Aussage, dass träge Politik Frauen tötet.
Täter töten Frauen (und Männer).
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Grillo
08.03.2025 14:00registriert Oktober 2020
Da muss aber auch die politische Trägheit bei der Qualität der Migration angesprochen werden, aber das darf man ja nicht.
Da wird einem ganz schnell der Rassist angehängt und so einer hat auf keinen Fall recht.
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Heimo Knödelmayr
08.03.2025 15:27registriert Januar 2025
Diese Taten sind auch Resultat der Migration aus gewissen Regionen wo Frauen als 3. klassige Personen gelten
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