Nix E-Mail. Nix Kopie. Die Frau hat weder Handy noch Internet, aber einen wachen Verstand. Jeder Brief von Hand geschrieben. Einladung zum Gedenktag «67 Jahre THC-Verbot in der Schweiz», steht drauf. Und: Tag der offenen Tür im Hanfmuseum. Darunter die Gästeliste. 25 Namen. Illuster. Beispielsweise Ruth Dreifuss, Simonetta Sommaruga und Alain Berset. Aber auch Leute, die wegen Hanfanbau schon in der Kiste schmorten.
Die Promis lassen sich an diesem Oktober-Tag im aargauischen Tägerig nicht blicken. Vielleicht hat Ruth Zwahlen insgeheim gehofft, sie würden aufkreuzen. Aber so richtig damit gerechnet hat sie kaum.
Egal. Sie sorgt eh dafür, dass Politiker und Beamte sie und ihre Mission nicht vergessen. Denn jedes Jahr trägt sie aus ihren 284 Bundesordnern «Hanf + Politik» die wichtigsten Fakten zusammen und versendet ein Dossier an 200 ausgewählte Menschen. Darunter Hanf-Freunde, aber auch -Gegner. Und wenn der letzte Joint seit Jahrzehnten verglimmt ist: Ruth Zwahlen, 69-jährig, wird in dieser Sache erst verstummen, wenn der Hanf legalisiert oder sie gestorben ist.
Ein Reihenhaus in Neuenhof AG. Drei Kinder. Die Mutter Hausfrau. Der Vater arbeitet bei der BBC. Erst als Kalkulator, dann als Betriebsleiter. Später nimmt die Familie einen Pflegebub auf. Der Bub wirkt verstört, ist nach wenigen Monaten weg.
Ruth Zwahlen weiss nicht wieso und wohin. Aber sie konstatiert, dass es der Mutter schlechter geht. Die Mutter kommt ins Spital Baden, wo ihr eine Schlafkur verordnet wird. Als Ruth Zwahlen neuneinhalb ist, bekommt sie die Nachricht, dass ihre Mutter sich das Leben genommen hat. Fortan ist sie die Frau im Haus.
Trotz Hausarbeit beendet sie die Schule. Lernt Verkäuferin, findet die Hippies toll und das Bürgertum furchtbar langweilig. «Die Gespräche in den mittelständischen Familien drehten sich nur darum, wer ein neues Sofa, einen Kühlschrank oder ein Auto gekauft hat.»
Ruth Zwahlen flieht. Mal nach Barcelona, wo sie mit 20 den ersten Joint raucht. Oder nach Zürich an die Riviera, wo die Jungen unter sich sind. Ob es bereits mit dem Tod ihrer Mutter («falsche Behandlung»), als Teenager («von einem Zungenkuss kann man schwanger werden») oder nach den ersten Joints («wer Hanf raucht, schlittert in die harten Drogen») begann, weiss sie nicht genau. Gegenüber Behörden ist sie bis heute argwöhnisch.
Mit 27 lernt sie ihren Mann kennen. Mit dem bisschen Geld, das sie haben, kaufen sie einen VW-Bus mit kaputtem Rückwärtsgang und fahren los. Planlos, ziellos. Türkei, Iran, Pakistan, Afghanistan, Nepal, Indien. «Die Einheimischen dachten, bei uns herrsche eine Hungersnot. So verlumpt waren die europäischen Touristen teilweise.» Sie kehrt zurück. Glücklich, selbstbewusst und schwanger. Spätestens nach dem Asien-Trip ist klar: Einen Rückwärtsgang braucht sie nicht.
Mit der Schweizer Drogenpolitik befasst sich Ruth Zwahlen erst, nachdem ihre drei Kinder erwachsen sind. Als sie mit ihrer Tochter nach Amsterdam fährt und dort die vielen Coffee-Shops sieht, denkt sie: Das müsste auch in der Schweiz möglich sein. In jener Zeit betreibt sie in Mellingen eine Brockenstube. Per Zufall erfährt Fritz Meier, Präsident der Schweizer Hanfbauern, dass Zwahlen auch Hanf-Produkte wie Tee und Seife verkaufen wolle. Wenig später stehen neben antiken Möbeln Hanf-Kosmetika und Hanf-Lebensmittel im Schaufenster der Brockenstube.
Bald tritt sie der Hanf-Koordination und dem Verein «Legalize it» bei, engagiert sich 1997 im Abstimmungskampf gegen die Initiative «Jugend ohne Drogen» und ein Jahr später für die Initiative für eine vernünftige Drogenpolitik. Ruth Zwahlen erlebt mit dem Nein eine schmerzliche Schlappe. Aber eben: Den Rückwärtsgang kennt sie nicht mehr. Volle Kraft voraus.
Mal campiert sie zwei Wochen vor einem Winterthurer Gefängnis, weil fünf «Hanfgärtner zu Unrecht» einsitzen. Mal zeigt sie einen Bezirksrichter an, weil sie findet, der Bevölkerung Angst vor dem Hanf einzujagen, sei auch strafbar.
Oder sie verlangt in einem Schreiben an Bundesrat Didier Burkhalter eine PUK, weil der Bund im Abstimmungskampf «Für eine vernünftige Hanf-Politik» mit falschen Fakten operiert habe. Was ein hoher Beamter in der brieflichen Antwort teilweise sogar bestätigt.
Ruth Zwahlen kramt in einem Zimmer ihres Hanfmuseums zwei Spielzeug-Autos hervor. Das eine ist mit Polizei, das andere mit Ambulanz beschriftet. «Egal, um welche Sucht es sich handelt. Zu wem gehen Süchtige, wenn sie ein Problem haben?» Sie stört sich daran, dass «800 Millionen Franken Steuergelder jährlich in die Repression fliessen. Das ist tragisch.
Denn einerseits könnte man einen grossen Teil dieser Summe gescheiter einsetzen. Andererseits ist Sucht eine Krankheit und kein Verbrechen. Ausserdem: Allein der Schweizer Hanfmarkt ist etwa 600 Millionen schwer. Würde man den Markt legalisieren, brächte das wiederum viele Steuermillionen ein. Kurz: Mit einer intelligenteren Politik würde man nicht nur viel Geld sparen, sondern auch viel Geld einnehmen.»
Anfang Nullerjahre wähnt sich Zwahlen am Ziel. Es ist eine Zeit, in der Hanfbauern von der Polizei nicht mehr besucht werden. Und Hanfläden ihr Gras verkaufen, als würde es sich um zuckerfreie Kaugummis handeln. Der Handel blüht und die Ordnungshüter schauen zu. Denn politisch, so scheint es, stehen die Ampeln auf Grün. «Unsere Idee war, ein Label zu kreieren, an das sich alle Shops und alle Produzenten in der Schweiz halten. Kein Verkauf an Jugendliche. Keine anderen Substanzen. Keine Importprodukte.»
Im Juni 2004 reist Ruth Zwahlen regelmässig von Tägerig nach Bern, um vor dem Bundeshaus für die Hanf-Legalisierung zu demonstrieren. Drinnen beraten die Räte über die Revision des Betäubungsmittelgesetzes, welches eine Entkriminalisierung von Cannabis vorsieht. Am Tag, als der Nationalrat die Vorlage behandelt, sitzt Zwahlen auf den Zuschauerrängen. Sie glaubt, auch die Politiker hätten eingesehen, dass der Drogenkrieg gescheitert ist. Doch der Nationalrat beschliesst, nicht auf die Vorlage einzutreten. Da platzt Ruth Zwahlen der Kragen. Mit einer Trillerpfeife macht sie so lange Radau, bis ein Sicherheitsmann sie hinauskomplimentiert.
Nachdem der Nationalrat nichts von Cannabis wissen will, schwärmen die Polizisten wieder aus. Führen Razzien durch, beschlagnahmen Ernten, lassen Läden schliessen, bringen Händler und Produzenten vor Gericht. «Eine Sauerei», findet Zwahlen. «Der Absinth wird nach fast 100 Jahren Verbot von den Politikern legalisiert, aber Cannabis verteufeln sie.»
Natürlich sind nicht alle gleich, einer ganz besonders nicht: Urs Hofmann, Aargauer Justizdirektor. Ruth Zwahlen freut sich, wie er «still und leise» einen Bundesgerichts-Entscheid durchsetzt, der besagt, dass Volljährige nicht mehr bestraft werden, wenn sie maximal zehn Gramm Cannabis mitführen. «Ist doch schön, wenn man einen Hoffnungsschimmer hat», sagt Zwahlen. «Nichts ist für ewig. Weder das Cannabis-Verbot noch die Berliner Mauer.» (aargauerzeitung.ch)