Nein, über die Virus-Massnahmen mag ich nicht klagen. Es ist einfach wie einst im Militärdienst. Nicht darüber nachdenken, einfach die Befehle und Anordnungen ohne Murren befolgen und das Denken den Armee-Pferden überlassen. Die haben viel grössere Köpfe. Inzwischen habe ich das Virus gesehen und in den Beschränkungen sogar einen gewissen Charme entdeckt.
Abgesehen von Darstellungen in den Medien wissen wir nicht, wie das Virus aussieht. Es begegnet uns ja im richtigen Leben nie und ist gerade deshalb unheimlich. Leere Strassen und geschlossene Geschäfte machen einem die Gefahr auch noch nicht richtig bewusst. Aber der erste mögliche Besuch bei meinem Coiffeur des Vertrauens hat mir die Augen geöffnet.
Weil die Stühle in seinem Salon nicht zu nahe beieinanderstehen dürfen, hat er einen Stuhl in den Bastelraum im Nachbarhaus verlegt. Dort durfte ich Platz nehmen. Auf dem Stuhl bin ich mit einem Plastikgewand bedeckt worden wie wir sie etwa in Krimis bei den Spezialisten sehen, die einen Tatort untersuchen. Eine Maske musste ich nur deshalb nicht tragen, weil ich mir den Bart stutzen liess.
Mein Barbier hüllte sich ebenfalls in einen Plastik-Schutzanzug, versteckte sein Gesicht hinter einem Mundschutz, zog Handschuhe an und setzte sich eine Art Taucherbrille auf. Als er die Schere zur Hand nahm, mahnte er mich an den berühmten Tiefseeforscher Jacques Cousteau bei der Untersuchung eines seltenen Meergetiers oder an Neil Armstrong, dem ersten Mann auf dem Mond, beim Inspizieren von Mondgestein. Wenn Haareschneiden und Barttrimmen solch umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen notwendig machen, dann muss die Gefahr wahrlich sehr gross sein und ich unterziehe mich gerne den behördlichen Weisungen und Verbote.
Ja, die einschränkenden Massnahmen haben sogar ihren ganz eigenen Charme. Am Montag sind nun, Gott sei es gedankt, die Beizen wieder aufgegangen. Und seither fühle ich mich um 40 Jahre verjüngt und zurückversetzt. In die längst vergangene Zeit des «Kalten Krieges» mit dem freien, guten kapitalistischen Westen und dem bösen kommunistischen Osten. Ich bin damals ein paar Mal in die DDR, die CSSR und die Sowjetunion gereist. Die graue «sozialistische Schäbigkeit» mit tristen Wohnquartieren, weitgehend verkehrsfreien Strassen, halbleeren Beizen und Läden und eingeschränkter Bewegungsfreiheit sind mir in der Erinnerung haften geblieben.
Als ich am Montag zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder das Wirtshaus meines Vertrauens in Huttwil, das Hotel Bahnhof, betreten durfte, war ich fasziniert. Die Tische standen weit auseinander, Gäste waren wenige da, die Stimmung war seltsam bedrückt und die Gaststube wirkte dadurch so vereinsamt, leer und trist, die Tische ohne Ménage und Zeitungen so steril und die Menükarte war so karg wie damals in den staatlichen sozialistischen Gaststätten des Ostens. Einzig die Qualität der dargereichten Speisen, der speditive Service und die Freundlichkeit des Personals machten mir bewusst, dass ich mich noch in meiner vertrauten Heimat und nicht auf einer Zeitreise befand.
Da ich zu den Zeiten meiner Fahrten und Flüge in den Ostblock noch ein bisschen jünger war und es damals dank guten Beziehungen durchaus auch Gelegenheit zu ein bisschen aufregendem Rock und Roll gab, hat mich ob dieser unverhofften DDR-Nostalgie eine melancholische Stimmung erfasst. Und mich nachdenklich gestimmt: Sind wir während der Virus-Krise nicht alle strikten Vorschriften ausgesetzt und befolgen alle Anordnungen mit der gleichen erstaunlichen Bereitwilligkeit wie es damals im Ostblock im Alltag üblich war? Und sind wir in diesen Tagen nicht auch so sehr von staatlichen Zahlungen abhängig wie einst die Menschen im realen Sozialismus?
Ich habe bis jetzt Menütechnisch keine Einschränkungen erlebt und bis auf Klopapier, Mehl und Hefe in den ersten Tagen noch immer alles im Supermarkt bekommen was ich brauchte, sogar Bananen!
Vom Kommunismus sind wir noch sehr weit entfernt, Genosse Zaugg ☭