Das grösste Experiment der ETH Lausanne ist im Grunde genommen ein Mikrowellenofen. Na ja, ein etwas grösserer und komplexerer Ofen als derjenige, der in der Büroküche steht. Er wird denn auch nicht Ofen genannt, sondern Reaktor. Für sich genommen ist er etwa so gross wie ein Hotpot, und darum herum wächst ein mehrere Meter breiter Dschungel von Gestängen und Gerüsten, Kabeln und Knöpfen, Sensoren und Schrauben.
Statt Fertigpizzas werden in solchen Reaktoren spezielle Wasserstoffisotope aufgeheizt. Und zwar auf extrem hohe Temperaturen. Während draussen ein eisiger Wind über den Campus weht, wird es im Reaktor über 100 Millionen Grad heiss, das ist heisser als im Inneren der Sonne. In dieser extremen Hitze geraten die Atome in einen Zustand jenseits von gasförmig, der Plasma genannt wird. Darin verschmelzen jeweils zwei Wasserstoffisotope zu Helium und geben dabei Energie ab. Energie, die sich in elektrischen Strom umwandeln lässt.
Der Prozess, der hier im Fusionsreaktor des Swiss Plasma Center erforscht wird, nennt sich Kernfusion. Auf natürliche Weise läuft er in der Sonne ab und bringt diese so zum Scheinen. Er gibt aber auch der Wasserstoffbombe ihr enormes Zerstörungspotenzial. Und doch von einem Fusionsreaktor keine Explosion zu befürchten.
Im Gegenteil, und das ist einer der grossen Vorteile gegenüber einem klassischen Kernkraftwerk: Sollte in einem Fusionskraftwerk irgendwas kaputtgehen, kühlt das Plasma ab und der Prozess kommt zum Erliegen. Das Kraftwerk fährt sich also bei einer Panne selber runter – es kommt bei Pannen nicht zu Kettenreaktionen mit Katastrophen wie in Fukushima und Tschernobyl.
Ambrogio Fasoli, Direktor des Swiss Plasma Centers, sagt:
Kohlendioxid entsteht keines, Atommüll nur sehr wenig. Tönt alles wunderbar. Doch trotz Jahrzehnten der Forschung gelingt es bis jetzt nirgends auf der Welt, mehr Strom zu produzieren, als der Betrieb des Reaktors benötigt.
Der Weltrekord für das Aufrechterhalten eines Plasmas liegt bei gerade mal sechseinhalb Minuten. Wie kann überhaupt ein etwas gemessen werden, das so heiss ist, dass kein Sensor darin platziert werden kann? Wie kann das Plasma stabiler gemacht werden? Wie kann das Material rundherum vor Schäden bewahrt werden? Fragen noch und noch, die physikalischen und technologischen Herausforderungen sind riesig.
Schon der Versuchsreaktor am Swiss Plasma Center füllt mit allen dazugehörigen Installationen und Kontrollapparaten ein ganzes Gebäude auf dem Campus. Um den Reaktor mit den daran befestigten Geräten herum steht eine Wand aus dicken Betonklötzen als Abschirmung gegen radioaktive Strahlung. Der Kontrollraum liegt ein Stockwerk höher, mit reihenweise Arbeitsplätzen an Computern, die in Coronazeiten allerdings nur spärlich besetzt sind.
Weitere Bildschirme hängen an den Wänden und berichten mit Zahlen und Grafiken davon, was sich im Reaktor abspielt. Das ist hier besonders wichtig, denn es wird ja noch kein Strom produziert, sondern Forschung betrieben. Speziell an diesem Reaktor ist, dass die Form des Plasmas verändert werden kann, es wird von starken Magnetspulen mal etwas höher, mal etwas flacher gedrückt – so kann das Team austesten, mit welcher Form der Reaktor am stabilsten läuft.
Zuhinterst im Kontrollraum führt eine Türe in einen weiteren Technikraum. «Können wir hineingehen?», fragt Ambrogio Fasoli sein Team. «Ja, aber es hat ein Magnetfeld», antwortet einer von den Bildschirmen her, «also nicht mit Herzschrittmacher, und die Kreditkarten lässt Ihr auch besser draussen.» Fasoli legt die Jacke und vorsichtshalber auch seine Uhr ab, bevor er sich den sogenannten Gyrotrons nähert, jenen mannshohen Apparaturen, welche die Mikrowellen produzieren.
Hier oben vibriert der Boden ein wenig, ein leichtes Brummen liegt in der Luft, aber abgesehen davon ist nichts von extremen physikalischen Bedingungen zu merken. Doch da werden Mikrowellen mit der tausendfachen Leistung eines Haushaltsgeräts erzeugt. Über zwei Röhren werden sie durch die Betonabschirmung hindurch in den Reaktor geleitet. Dort heizen sie nicht nur das Plasma auf, sondern können auch Blasen im Plasma auflösen, um den ganzen Prozess effizienter zu machen.
Das gelingt in Lausanne so gut, dass nun geplant ist, eine solche Mikrowellenkanone auch beim Kernfusions-Megaprojekt Iter in Südfrankreich einzubauen.
Iter – so heisst der riesige Versuchsreaktor, dessen Montage im vergangenen Sommer nach schier endlosen Verzögerungen endlich begonnen hat. Projektstart war 1988, Baustart auf dem Gelände 2010, die ersten Experimente sind für Ende 2025 vorgesehen. Mitglieder sind die EU und das Vereinigte Königreich, die USA, Russland, China, Indien, Japan und Südkorea; die Schweiz ist indirekt via EU beteiligt.
Der Iter-Reaktor ist rund tausend Mal so gross wie derjenige in Lausanne, die Gesamtkosten sind längst im zweistelligen Milliardenbereich angelangt. Parallel zu den Kosten wuchs auch die Kritik, im vergangenen Jahr hat zum Beispiel ETH-Teilchenphysiker Michael Dittmar öffentlich einen Ausstieg gefordert.
Ambrogio Fasoli gibt zu:
Entscheide seien aufgrund geopolitischer statt wissenschaftlicher Überlegungen getroffen worden. Doch inzwischen sieht er das Projekt auf gutem Weg. «Man hat aus vergangenen Fehlern gelernt», sagt er. Aber selbst wenn irgendwann alles wie geplant zum Laufen kommt, wird von Iter noch kein Strom verkauft. Dieser entscheidende Schritt ist für ein Nachfolgeprojekt mit dem Namen «Demo» vorgesehen.
Allerdings ist inzwischen nebst den grossen internationalen Projekten auch sonst einiges in Planung. China investiert riesige Summen in die Forschung. Die britische Regierung sucht aktuell einen Standort für einen Prototypen. Und ein Oxford-Spinoff kündigte kürzlich gar an, bereits in zehn Jahren billigen Fusionsstrom zu liefern – von solchen Versprechen hält Fasoli allerdings nicht viel.
Trotzdem ist für ihn klar: «Kernfusion ist die Zukunft, in Ergänzung zu erneuerbaren Energien.» Er stellt sich vor, dass irgendwann in der Schweiz vier oder fünf Fusionskraftwerke statt der aktuellen Kernkraftwerke stehen. Diese werden aber eher seine Enkel als ihn selber mit Strom versorgen. Eine wirtschaftliche Produktion erwartet der 56-jährige Professor erstmals in den 2050ern.
Ansonsten: Cool, bitte mehr davon.