Schweiz
Genf

Work-Life-Balance: Staatsangestellte in Genf lernen, offline zu gehen

Business-Lunch im Sushi-Restaurant: Nicht immer werden Pausen zur Erholung genutzt.
Business-Lunch im Sushi-Restaurant: Nicht immer werden Pausen zur Erholung genutzt.Bild: getty

Stets erreichbar – aber zu welchem Preis? Beamte lernen im Online-Kurs, offline zu gehen

Die Grenzen zwischen Beruf und Freizeit verschwimmen. Was müssen Arbeitnehmende akzeptieren? In Genf lernen Staatsangestellte, wie man abschaltet. In anderen Kantonen und im Bundesparlament wird über neue Regeln gestritten.
13.11.2024, 11:40
Julian Spörri / ch media
Mehr «Schweiz»

Im Feierabend den Anruf des Vorgesetzten annehmen. In den Ferien schnell die Mails checken. Oder die Mittagspause in einem Zoom-Call verbringen. Mit der Allgegenwärtigkeit von Smartphones und Homeoffice verschwinden die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit zusehends – nicht ohne Risiken für die Gesundheit. Ständige Erreichbarkeit kann zur psychischen Belastung werden.

In einem Kanton beschreitet man deshalb neue Wege: In einem 50-minütigen Onlinekurs lernen die Genfer Staatsangestellten, wie man offline geht. Das Ausbildungsmodul behandelt das Recht auf Abschalten sowie arbeitgeberspezifische Regeln und Empfehlungen, gefolgt von einem Quiz.

«Es wird immer schwieriger, Privat- und Berufsleben miteinander zu vereinbaren. Ständig online zu sein, ist jedoch keine Pflicht, und das Recht auf Abschalten ist unbestritten, wenn auch in der Schweiz noch nicht gesetzlich verankert», wird den Staatsangestellten einleitend klar gemacht. Tatsächlich ist ein solches Recht national nirgends explizit festgehalten – anders als etwa in Australien oder Frankreich. Es gibt aber Regelungen auf Firmen und Branchenebene.

Technische Kniffs und Offline-Ratschläge

Im E-Learning wird den über 18'000 Genfer Staatsangestellten empfohlen, berufliche Kontakte in der Freizeit zu vermeiden – ausser für Notfälle und in gewissen Funktionen. Sie lernen Tricks, um besser abzuschalten: das Einrichten von Abwesenheitsmeldungen oder der Einsatz von Apps, mit denen sich private und geschäftliche Mails und Benachrichtigungen auf dem Smartphone trennen lassen. Ebenso hebt der Kurs die Bedeutung persönlicher Kontakte anstelle von Telefongesprächen oder E-Mail-Korrespondenzen hervor. All das mit dem Ziel, «die Lebensqualität zu verbessern».

Laptop mit Outlook von Microsoft. Nutzer des E-Mail-Programms melden nach einem Update Probleme bei der Anzeige von Mails.
Tricks, um besser abzuschalten, sind: das Einrichten von Abwesenheitsmeldungen oder der Einsatz von Apps, mit denen sich private und geschäftliche Mails und Benachrichtigungen auf dem Smartphone trennen lassen.Bild: Shutterstock

Weder beim Verband der Westschweizer Firmen noch beim Schweizerischen Arbeitgeberverband hat man Kenntnis von Arbeitgebern in der Privatwirtschaft, welche ihren Angestellten solche Onlinekurse anbieten.

Dass die Genfer Verwaltung vorpreschte, kommt nicht von ungefähr. Das Recht auf ein Offlineleben steht in der Kantonsverfassung, seit sich die Bevölkerung vor eineinhalb Jahren mit 94 Prozent Ja-Anteil das Recht auf digitale Unversehrtheit gegeben hat. Der Verfassungsartikel beinhaltet ein Recht auf Schutz vor Datenmissbrauch, auf Sicherheit im digitalen Raum, auf Vergessenwerden – sowie auf ein Offline-Leben.

Das klingt abstrakt und ist es auch. Gegner und Befürworter streiten sich, ob ein solcher Verfassungsartikel nur symbolisch ist oder konkrete Auswirkungen hat. Derzeit laufen diese Diskussionen im Kanton Neuenburg, wo am 24. November über das Recht auf digitale Integrität abgestimmt wird. Auch im Kanton Zürich kommt dereinst eine ähnliche Initiative der Piratenpartei vors Volk.

Kein Erfolg hatte das Recht auf digitale Integrität im Bundesparlament: Der Nationalrat versenkte im letzten Dezember einen entsprechenden Vorstoss von Samuel Bendahan (SP/VD).

Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf

Kantonale Verfassungsartikel beziehen sich auf die Aktivitäten der öffentlichen Hand. So impliziert das Recht auf ein Offline-Leben in Genf zwar, dass Kantonsangestellte abschalten können sollen und die Verwaltung nicht nur online, sondern auch am Schalter oder telefonisch erreichbar sein muss. Auf private Firmen und ihre Angestellten und Kunden hat der Paragraf dagegen keine Auswirkungen. Dafür ist die nationale Gesetzgebung massgebend.

Nationalraetin Greta Gysin, GP-TI, Praesidentin der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N), spricht waeherend einem Point de presse der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates ( ...
In einer Motion fordert die Tessiner Grünen-Nationalrätin Greta Gysin eine Änderung des Arbeitsgesetzes.Bild: keystone

Hier steht zumindest beim Thema Abschalten eine neue Debatte bevor. In einer Motion fordert die Tessiner Grünen-Nationalrätin Greta Gysin eine Änderung des Arbeitsgesetzes: Für Arbeitnehmende brauche es ein explizites Recht, in der Freizeit nicht erreichbar zu sein.

Der Bundesrat empfiehlt den hängigen Vorstoss zur Ablehnung. Seiner Ansicht nach gelten heute schon «ausreichende und klare, gesetzliche Schranken für die ständige Erreichbarkeit». Während der Ruhezeit bestehe kein Anspruch des Chefs oder der Chefin, die Arbeitnehmenden erreichen zu können. Anders gesagt: Wer trotzdem aufs Handy schaut, muss sich selbst an der Nase nehmen – oder schleunigst einen Offline-Kurs besuchen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
17 Anti-Motivationssprüche für einen verschenkten Tag
1 / 19
17 Anti-Motivationssprüche für einen verschenkten Tag
bild: watson/shutterstock
Auf Facebook teilenAuf X teilen
12-Jähriger rettet seinem Therapeuten das Leben – dank «Stranger Things»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
17 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Zürischnurre
13.11.2024 12:36registriert Februar 2016
Das fängt ja schon ganz unten an. Meine Kinder bekamen um 18 oder 19 Uhr noch eine Teams Nachricht vom Lehrer, Infos zum nächsten Tag oder ergänzend Ufzgi. Als ob er/sie nicht 8h Zeit dazu gehabt hätte.
Am Elternabend mussten wir uns dann anhören, dass der Sohn die Nachrichten nicht liest am Abend und seine Unterlagen deshalb amel unvollständig gewesen seien.
Mein Mann hat zum Glück gut reagiert und die Klasse vor abendlichen Nachrichten befreit.
441
Melden
Zum Kommentar
avatar
UnpopularOpinion
13.11.2024 12:54registriert Oktober 2022
Ich bin da ziemlich gesegnet, bei uns im Geschäft ist Feierabend Feierabend und Ferien sind Ferien und das wird ausnahmslos akzeptiert. Aufgrund Personalknappheit habe ich angeboten, während meiner Ferien 1-2 Tage reinzukommen und die Chefs meinten "ganz bestimmt nicht, du brauchst deine Ferien". So sollte es überall sein.
350
Melden
Zum Kommentar
avatar
Mocking Bert
13.11.2024 11:46registriert Februar 2022
Wetten, 50% der Angestellten haben den Onlinekurs während der Mittagspause gemacht? 😁

Aber Spass ufs Velo... ichxhatte mal einen Chef der sagte, er sei 24h für uns erreichbar. Wenn Leute mit Vorbildfunktion einen solchen Blödsinn labern, ist es doch kein Wunder dass der Druck steigt.
384
Melden
Zum Kommentar
17
    Schweiz verbessert sich bei Gleichstellung leicht – Lohnungleichheit weiterhin gross

    Die Schweiz macht bezüglich der Gleichstellung am Arbeitsplatz leichte Fortschritte. Die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau bleibe allerdings weiterhin gross, heisst es in einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des Beratungsunternehmens PwC.

    Zur Story