Zum ersten Mal seit 2019 werden in diesem Jahr mehr als 40’000 Menschen neu in das Schweizer Bürgerrecht aufgenommen. Bis Ende November erhielten 37'475 Ausländerinnen und Ausländer den Schweizer Pass, wie Daten des Staatssekretariats für Migration zeigen. Wer mindestens zehn Jahre hier lebt, wirtschaftlich und sozial gut integriert ist, eine Landessprache spricht und einen guten Leumund hat, kann ein Gesuch stellen. Die meisten Neoschweizerinnen und -schweizer stammen aus den Nachbarländern Deutschland, Italien und Frankreich.
Nur ein Bruchteil der Ausländer beantragt das Bürgerrecht. Schon vor zehn Jahren ging die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen davon aus, dass knapp eine Million Ausländerinnen und Ausländer formal die Kriterien dafür erfüllen würden.
Die starke Zuwanderung, gerade auch zwischen den Jahren 2007 bis 2012, legt nahe, dass unterdessen mehr als eine Million Menschen Schweizer werden könnten. Insgesamt leben 2.2 Millionen Personen mit ausländischem Pass in der Schweiz. Sie dürfen politisch nicht mitbestimmen.
Arber Bullakaj vom Verein Aktion Vierviertel spricht deshalb von einem «Demokratiedefizit». Dass die Schweiz einem Viertel ihrer Bevölkerung nicht die gleichen politischen Rechte gewähre, widerspreche dem Grundsatz «keine Steuern ohne Mitsprache» und sei Ausgrenzungspolitik, sagt das Mitglied des Parteirats der SP Schweiz.
Nur die Staatsbürgerschaft sorge für politische Gleichheit. Diese umfasse freilich mehr als bloss das Stimm- und Wahlrecht, sagt der 36-jährige IT-Unternehmer Bullakaj. Er hat kosovarische Wurzeln und liess sich vor 16 Jahren in Wil SG einbürgern.
Jetzt lanciert er mit der Aktion Vierviertel ein neues Projekt. Im Frühling will sie die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative für ein liberaleres Bürgerrecht starten. Das Ziel: Ein modernisiertes Bürgerrecht mit Anspruch auf Einbürgerung.
Den genauen Initiativtext will die Aktion Vierviertel in den nächsten Wochen festlegen. Welche Kriterien, zum Beispiel zur Integration und zur Aufenthaltsdauer in der Schweiz gelten sollen, ist noch offen. Bullakaj verrät, dass sich der Initiativtext am Manifest der Aktion Vierviertel orientiert, aber weniger weit gehen wird.
Das Manifest enthält Forderungen, die heftigen politischen Widerstand provozieren dürften. Es postuliert etwa ein Recht auf Einbürgerung für alle Personen, die seit vier Jahren in der Schweiz leben – unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Diskriminierend sei es auch, Sozialhilfebezügern das Bürgerrecht zu verwehren. Auch sollen Kinder, die in der Schweiz geboren werden, automatisch das Bürgerrecht erhalten. Das Parlament hat kürzlich einen entsprechenden Vorstoss abgelehnt.
Bereits öffentlich Unterstützung für die Initiative angekündigt hat die Operation Libero. Auch die SP und die Grünen signalisieren auf Anfrage von CH Media Support. Die GLP, die mit diversen Vorstössen die Einbürgerung vereinfachen will, warnt jedoch davor, einen quasi bedingungslosen Anspruch auf den Schweizer Pass zu verlangen. «Eine solche Extremforderung ist politisch nicht mehrheitsfähig und hemmt damit möglicherweise rasche und dringend notwendige Anpassungen», sagt die Basler Nationalrätin Katja Christ.
Doch weshalb lassen sich aktuell nicht mehr Ausländer einbürgern, obwohl sie die Voraussetzungen dafür erfüllen? IT-Unternehmer Bullakaj sagt: «Die Hürden sind viel zu hoch.» Eine Rolle spielt der Föderalismus. Einzelne Kantone, zum Beispiel Aargau und Luzern, verlangen von den Gesuchstellern, dass sie mindestens die letzten fünf Jahre im Kanton wohnten. Bern zum Beispiel fordert nur zwei Jahre. Auch die Anforderungen an die Sprachkenntnisse können variieren. Zum Beispiel Thurgau und Schwyz setzen strengere Massstäbe als das Bundesgesetz.
Bullakaj verweist auf eine Untersuchung, die zeigt, dass die Schweiz in Europa nach Zypern die zweitstrengsten Kriterien kennt. In vielen Ländern, zum Beispiel Irland, Schweden oder Frankreich, genügt ein Aufenthalt von fünf Jahren.
Bullakaj nennt weitere Gründe, die seiner Meinung nach eine abschreckende Wirkung entfalten. Das Einbürgerungsverfahren koste in der Regel mindestens 4000 Franken, einige Kandidaten müssten auch Geld für Staatskunde- und Sprachkurse ausgeben, zudem daure der Prozess lange. «Und viele fühlen sich wie in einem Verhör, wenn sie an ihrem Wohnort bei den Behörden vorsprechen müssen.»
In der Tat sorgten in der Vergangenheit immer wieder Gemeinden für Schlagzeilen, die Ausländern aus kuriosen Motiven das Bürgerrecht verwehrten. So verweigerte die Gemeinde Arth SZ einem Italiener den Schweizer Pass unter anderem deshalb, weil er nicht wusste, dass im Tierpark Goldau Bär und Wolf im gleichen Gehege leben.
In der Gemeinde Oberriet SG scheiterte ein Kosovare, weil er die lokalen Restaurants nicht gut genug kannte. Nur dank Rekursen wurden die beiden Männer doch noch Schweizer. «Solche Schikanen sind unwürdig», sagt Bullakaj. Er wünscht sich vielmehr, dass die Behörden die Ausländer aktiv dazu einladen, sich um das Bürgerrecht zu bewerben. (aargauerzeitung.ch)