Russland verzeichnet Erfolge – ukrainischer Kommandeur wütet auf Facebook
Was ist los in Charkiw?
Am 10. Mai hat Russland im Grenzgebiet zur ukrainischen Millionenstadt Charkiw eine Offensive gestartet. Unterstützt von Kampfjets, Artillerie und Drohnen strömten russische Truppen über die nordöstliche Grenze in die Ukraine und kämpften sich Quadratkilometer um Quadratkilometer vor.
Insgesamt neun Ortschaften konnten bei der Stadt Wowtschansk seit Freitag erobert werden, wie das russische Verteidigungsministerium am Montag bekannt gab. Laut der New York Times seien täglich mehr Quadratkilometer und Siedlungen eingenommen worden als bisher im Krieg – ausgenommen bei Kriegsbeginn.
Das musste auch der ukrainische Generalstab einräumen. In seinem Lagebericht schrieb er in der Nacht zum Montag:
Wie gelang Russland dieser Teilerfolg?
Der Hauptgrund für den russischen Erfolg liegt auf der Hand: Der Ukraine fehlt es an Waffen, wie die Truppen schon seit Monaten klagen. Doch auch das ungenutzte Potenzial von eigentlich vorhandenen Waffen dürfte eine Rolle spielen.
Wie das Institut für Kriegsstudien (ISW) im Bericht vom Sonntag schreibt, seien die russischen Offensivbemühungen zur Einnahme von Wowtschansk – welches nur 5 Kilometer von der russischen Grenze liegt – zum grossen Teil eine Folge der «stillschweigenden Politik des Westens».
Diese untersage es den ukrainischen Streitkräften, vom Westen bereitgestellte Systeme einzusetzen, um legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen.
Der ukrainische Kommandeur Denys Jaroslawski sieht im russischen Vorstoss aber auch internes Versagen. Am Sonntagmorgen machte er auf Facebook seinem Ärger Luft und bezichtigte die ukrainische Verteidigung einer miserablen Grenzverteidigung:
Die vom Feind betretene Zone hätte nicht grau – also keine umstrittene Zone zwischen der russischen und ukrainischen Frontlinie – sein dürfen, so Jaroslawski.
Die 125. separate Panzerbrigade, die unter anderem für diesen Bereich zuständig ist, stritt die Aussagen Jaroslawksis auf Facebook ab:
Die Lage der Verteidigungslinie ihrer Brigade sei schwierig, aber «unter Kontrolle». Weiter weist die Brigade darauf hin, dass sich die vom Feind eingenommenen Siedlungen schon immer in einer Grauzone befunden hätten. Der Erfolg des Feindes sei daher bedingt und koste ihn «grosse Verluste an Ausrüstung und Arbeitskräften», wiegelt die Brigade in ihrer Stellungnahme die Situation weiter ab.
Das bestätigt auch der ukrainische Generalstab im neusten Lagebericht. Demnach setze das russische Militär bedeutende Kräfte im Kampf um Wowtschansk ein – die Rede ist von bis zu fünf Bataillonen.
Welche strategische Bedeutung hat Wowtschansk?
Laut ISW versuchen die russischen Streitkräfte offenbar, Wowtschansk einzukreisen. Sollte ihnen die Eroberung der umliegenden Siedlungen gelingen, so wären die ukrainischen Bodenverbindungslinien zu Wowtschansk abgeschnitten. Mit der Zerstörung von Brücken über nahe liegende Gewässer versuchen die russischen Streitkräfte zudem, die Verteidigungskräfte in Wowtschansk von umliegenden Gebieten zu isolieren.
Was Wowtschansk für Russland attraktiv macht, ist die Nähe zur Grenze, wie der ukrainische Militärbeobachter Kstyantyn Mashovets gegenüber dem ISW erklärt. Die Stadt böte den russischen Streitkräften einen kleinen Absatz, um eine stabile Kontrolle und Feuerunterstützung zu ermöglichen, ohne ihre Artillerie zu verlegen. Zudem könnten Treibstoff- und Waffenlieferungen schnell an die Frontlinie transportiert werden.
Will Russland nach Charkiw vorstossen?
Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gehen davon aus, dass der Vorstoss noch nicht auf die Stadt Charkiw ziele. Das ISW in den USA sprach von «begrenzten operativen Zielen». Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen; durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Haubitzen und Kanonen kommen.
Strategisches Ziel sei es, die Ukrainer zu zwingen, Soldaten und Material von anderen bedrängten Abschnitten der Front im Osten abzuziehen. Der begrenzte Einsatz lege nicht nahe, «dass russische Kräfte in grossem Massstab eine Offensivoperation durchführen, um Charkiw einzuschliessen, einzukreisen oder zu erobern», schrieb das ISW.
Dieser Einschätzung stimmt Franz-Stefan Gady, ein in Wien ansässiger Militäranalyst, gegenüber der New York Times zu:
Tatsächlich gehen der Ukraine nach zwei Jahren Krieg langsam die Soldaten aus. Um die Situation zu entschärfen, hat das ukrainische Parlament vor einer Woche ein Gesetz verabschiedet, welches die Mobilmachung von Verurteilten erlaubt – eine Praxis, von der Russland schon länger Gebrauch macht.
Auch wenn die Lage in der Region Charkiw derzeit düster aussieht, glauben Expertinnen und Experten nicht, dass der derzeitige Vorstoss grosse Auswirkungen auf den Krieg im Allgemeinen hat. Gemäss Thibault Fouillet, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Strategie- und Verteidigungsstudien, einem französischen Forschungszentrum, blieben die Kämpfe vorerst in einer allgemeinen taktischen Pattsituation, in der Russland begrenzte und kostspielige Gewinne erziele.
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA und DPA.
