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Wieso Russlands neuste Offensive in Charkiw so erfolgreich ist

A police officer runs in front on burning house destroyed by a Russian airstrike in Vovchansk, Ukraine, on Saturday, May 11, 2024. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Ein ukrainischer Polizeioffizier vor einem brennenden Haus in Wowtschansk.Bild: keystone

Russland verzeichnet Erfolge – ukrainischer Kommandeur wütet auf Facebook

Am Wochenende hat Russland im Charkiw-Gebiet so viele Erfolge erzielt wie seit Kriegsbeginn nicht mehr. Was hinter diesem Vorstoss steckt und wieso er bisher so erfolgreich war.
13.05.2024, 12:5913.05.2024, 14:30

Was ist los in Charkiw?

Am 10. Mai hat Russland im Grenzgebiet zur ukrainischen Millionenstadt Charkiw eine Offensive gestartet. Unterstützt von Kampfjets, Artillerie und Drohnen strömten russische Truppen über die nordöstliche Grenze in die Ukraine und kämpften sich Quadratkilometer um Quadratkilometer vor.

epa11330778 Ukrainian rescuers work to extinguish a fire at the site of an overnight missile strike on private buildings in Kharkiv, northeastern Ukraine, 10 May 2024, amid the Russian invasion. Khark ...
Häuser in Charkiw stehen nach einem Raketenangriff am 10. Mai in Flammen.Bild: keystone

Insgesamt neun Ortschaften konnten bei der Stadt Wowtschansk seit Freitag erobert werden, wie das russische Verteidigungsministerium am Montag bekannt gab. Laut der New York Times seien täglich mehr Quadratkilometer und Siedlungen eingenommen worden als bisher im Krieg – ausgenommen bei Kriegsbeginn.

Das musste auch der ukrainische Generalstab einräumen. In seinem Lagebericht schrieb er in der Nacht zum Montag:

«Derzeit hat der Feind taktischen Erfolg.»

Wie gelang Russland dieser Teilerfolg?

Der Hauptgrund für den russischen Erfolg liegt auf der Hand: Der Ukraine fehlt es an Waffen, wie die Truppen schon seit Monaten klagen. Doch auch das ungenutzte Potenzial von eigentlich vorhandenen Waffen dürfte eine Rolle spielen.

Wie das Institut für Kriegsstudien (ISW) im Bericht vom Sonntag schreibt, seien die russischen Offensivbemühungen zur Einnahme von Wowtschansk – welches nur 5 Kilometer von der russischen Grenze liegt – zum grossen Teil eine Folge der «stillschweigenden Politik des Westens».

Diese untersage es den ukrainischen Streitkräften, vom Westen bereitgestellte Systeme einzusetzen, um legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen.

epa11333872 A residential building damaged during recent shelling on the outskirts of Volchansk, Kharkiv region, Ukraine, 11 May 2024, amid the Russian invasion. Some people decided not to evacuate bu ...
Ein zerstörtes Gebäude in der Umgebung Wowtschansks.Bild: keystone

Der ukrainische Kommandeur Denys Jaroslawski sieht im russischen Vorstoss aber auch internes Versagen. Am Sonntagmorgen machte er auf Facebook seinem Ärger Luft und bezichtigte die ukrainische Verteidigung einer miserablen Grenzverteidigung:

«Die erste Linie der Befestigungen und Minen existierte einfach nicht. Der Feind betrat ungehindert die Grauzone entlang der gesamten Sperrlinie, die im Prinzip nicht hätte grau sein dürfen!»

Die vom Feind betretene Zone hätte nicht grau – also keine umstrittene Zone zwischen der russischen und ukrainischen Frontlinie – sein dürfen, so Jaroslawski.

Die 125. separate Panzerbrigade, die unter anderem für diesen Bereich zuständig ist, stritt die Aussagen Jaroslawksis auf Facebook ab:

«Entweder aus Unkenntnis der Situation oder aus dem Wunsch heraus, Schaden anzurichten, verbreiteten einige Nutzer sozialer Medien völlig falsche Informationen über die mangelnde Vorbereitung der Verteidigungskräfte auf eine feindliche Offensive oder, noch schlimmer, über den Rückzug einzelner Einheiten aus den ihnen anvertrauten Verteidigungslinien.»

Die Lage der Verteidigungslinie ihrer Brigade sei schwierig, aber «unter Kontrolle». Weiter weist die Brigade darauf hin, dass sich die vom Feind eingenommenen Siedlungen schon immer in einer Grauzone befunden hätten. Der Erfolg des Feindes sei daher bedingt und koste ihn «grosse Verluste an Ausrüstung und Arbeitskräften», wiegelt die Brigade in ihrer Stellungnahme die Situation weiter ab.

Das bestätigt auch der ukrainische Generalstab im neusten Lagebericht. Demnach setze das russische Militär bedeutende Kräfte im Kampf um Wowtschansk ein – die Rede ist von bis zu fünf Bataillonen.

Welche strategische Bedeutung hat Wowtschansk?

Laut ISW versuchen die russischen Streitkräfte offenbar, Wowtschansk einzukreisen. Sollte ihnen die Eroberung der umliegenden Siedlungen gelingen, so wären die ukrainischen Bodenverbindungslinien zu Wowtschansk abgeschnitten. Mit der Zerstörung von Brücken über nahe liegende Gewässer versuchen die russischen Streitkräfte zudem, die Verteidigungskräfte in Wowtschansk von umliegenden Gebieten zu isolieren.

epa11333859 Lidia looks at the damage after shelling on the outskirts of Volchans, Kharkiv region, Ukraine, 11 May 2024, amid the Russian invasion. Lidia, along with others, decided not to evacuate bu ...
Die Ukrainerin Lidia steht vor einem zerstörten Gebäude in einem Vorort Wowtschansks. Trotz Evakuierungsaufrufen bleibt sie in ihrem Dorf. Bild: keystone

Was Wowtschansk für Russland attraktiv macht, ist die Nähe zur Grenze, wie der ukrainische Militärbeobachter Kstyantyn Mashovets gegenüber dem ISW erklärt. Die Stadt böte den russischen Streitkräften einen kleinen Absatz, um eine stabile Kontrolle und Feuerunterstützung zu ermöglichen, ohne ihre Artillerie zu verlegen. Zudem könnten Treibstoff- und Waffenlieferungen schnell an die Frontlinie transportiert werden.

Will Russland nach Charkiw vorstossen?

Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gehen davon aus, dass der Vorstoss noch nicht auf die Stadt Charkiw ziele. Das ISW in den USA sprach von «begrenzten operativen Zielen». Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen; durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Haubitzen und Kanonen kommen.

epa11320204 The scene of a Russian bomb attack on a residential building in Kharkiv, northeastern Ukraine, 05 May 2024 At least 14 people were wounded in glide bomb attacks across the city, according  ...
Ein zerstörtes Gebäude in Charkiw, 5. Mai 2024.Bild: keystone

Strategisches Ziel sei es, die Ukrainer zu zwingen, Soldaten und Material von anderen bedrängten Abschnitten der Front im Osten abzuziehen. Der begrenzte Einsatz lege nicht nahe, «dass russische Kräfte in grossem Massstab eine Offensivoperation durchführen, um Charkiw einzuschliessen, einzukreisen oder zu erobern», schrieb das ISW.

Dieser Einschätzung stimmt Franz-Stefan Gady, ein in Wien ansässiger Militäranalyst, gegenüber der New York Times zu:

«Die Russen haben ebenso wie viele Analysten verstanden, dass der grösste Nachteil, unter dem die Ukraine derzeit leidet, die militärischen Arbeitskräfte sind. Indem man die Frontlinie ausdünnt, erhöht man die Chancen für einen Durchbruch.»

Tatsächlich gehen der Ukraine nach zwei Jahren Krieg langsam die Soldaten aus. Um die Situation zu entschärfen, hat das ukrainische Parlament vor einer Woche ein Gesetz verabschiedet, welches die Mobilmachung von Verurteilten erlaubt – eine Praxis, von der Russland schon länger Gebrauch macht.

Auch wenn die Lage in der Region Charkiw derzeit düster aussieht, glauben Expertinnen und Experten nicht, dass der derzeitige Vorstoss grosse Auswirkungen auf den Krieg im Allgemeinen hat. Gemäss Thibault Fouillet, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Strategie- und Verteidigungsstudien, einem französischen Forschungszentrum, blieben die Kämpfe vorerst in einer allgemeinen taktischen Pattsituation, in der Russland begrenzte und kostspielige Gewinne erziele.

Mit Material der Nachrichtenagentur SDA und DPA.

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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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92 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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flausch
13.05.2024 14:03registriert Februar 2017
Wenn man zuschauen muss wie sich die Russen gefühlt 10 meter hinter der Grenze schön Positionieren um sie zu überschreiten aber nichts tun darf weil einem sonst die eigenen "Freunde" evtl noch die Hilfe abdrehen, sollte sich wohl gefragt werden wieviel einem diese Freundschaft hilft. Die Ukrainische Bevölkerung hält für uns alle den Kopf hin und wir schlafen. Wir versuchen sogar zu ignorieren was der Russ. Geheimdienst in unseren Ländern so anstellt, wir versuchen aus Feigheit seine Anschläge zu ignorieren... WTF
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wilhelmsson
13.05.2024 13:39registriert Dezember 2015
Zwei Optionen:
1) Europa und Verbündete unterstützen die Ukraine weiterhin ungenügend und RU wird früher oder später zumindest grosse Teile der Ukraine erobern. Die Folgen wären Millionen von Flüchtlingen und über Jahrzehnte eine militärisch zu sichernde Ostgrenze Europas mit NATO-Soldaten.
2) Europa und Verbündete unterstützen die Ukraine mit allen nötigen Waffen, um ihr Territorium zu verteidigen/befreien. Dazu stellen sie, wo nötig, auf Kriegswirtschaft um.

Option 2 ist auch alle Folgekosten betrachtet dennoch die günstigere. Zudem will Putin nicht verhandeln solange RU Erfolg hat.
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TommyGun
13.05.2024 13:33registriert Oktober 2020
Gegen die Russen direkt an der Grenzlinie zu verteidigen ist Unsinn. Für die Moral ist natürlich die Übernahme einiger Dörfer nicht so hilfreich, aber für den Krieg vollkommen irrelevant. Die eingenommenen Dörfer lagen schon vorher im "Niemandsland" da sie keine taktisch gut verteidigbare Position haben. Wichtig für die Ukrainer ist, dass sie das Gelände für ihre Verteidigung bestmöglich nutzen, anstatt jeden Zentimeter sinnlos versuchen zu halten.
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