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Islam als Schweizer Landeskirche? Was dafür und was dagegen spricht

Pro & Contra

Islam als Schweizer Landeskirche? Was dafür und was dagegen spricht

Schweizer Muslime wollen, dass ihre Religion öffentlich-rechtlich anerkannt wird. Was spricht dafür und was dagegen? Zwei Expertinnen beziehen Stellung. 
18.02.2015, 14:48
Rafaela Roth
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Der Terroranschlag in Paris liess die Diskussion um den Islam und dessen Integration in die westliche Welt erneut aufflammen – auch in der Schweiz. Kurz nach dem Attentat forderte der Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz, Farhad Afshar, zum wiederholten Mal eine öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islam. Er glaubt, die Radikalisierung von Jugendlichen liesse sich damit bekämpfen.

Pro: Rifa'at Lenzin, Islamwissenschaftlerin
Pro: Rifa'at Lenzin, IslamwissenschaftlerinBild: zvg

In der «Schweiz am Sonntag» forderte Kirchenrechtler Martin Grichting am Wochenende genau das Gegenteil: Man sollte den Katholiken und Reformierten ihren Status wegnehmen und das ganze System «Landeskirche» abschaffen. Auf watson gibt's die Pro's & Con's. 

Auf der Pro-Seite steht Rifa'at Lenzin. Sie sagt, es komme einer Diskriminierung gleich, den Islam nicht öffentlich-rechtlich anzuerkennen. Die 60-jährige Islamwissenschaftlerin und Publizistin erhielt 2010 die Ehrendoktorwürde der Universität Bern für ihren Einsatz im Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen und für ihre Beiträge zur Genderfrage im Islam. Sie ist die Präsidentin der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft der Schweiz IRAS-COTIS und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR. 

Contra: Reta Caspar, Geschäftsführerin der Schweizer Freidenker-Vereinigung.
Contra: Reta Caspar, Geschäftsführerin der Schweizer Freidenker-Vereinigung.Bild: zvg

Auf der Contra-Seite steht Reta Caspar. Die islamischen Gemeinschaften seien ideologisch zu uneinheitlich für eine öffentlich-rechtliche Anerkennung und das System der Landeskirchen sei an sich hinfällig, sagt sie.  Die 57-jährige Geografin und Juristin ist die Geschäftsführerin der Schweizer Freidenker-Vereinigung. Daneben bloggt sie für «news.ch».

Sollen muslimische Gemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt werden?  

Rifa'at Lenzin: Es kommt einer Diskriminierung gleich, es nicht zu tun. In der muslimischen Gemeinschaft besteht das Bedürfnis seit Jahren, und aus der Sicht des Staats wäre es von Vorteil. Man kann von den Muslimen nicht ständig bessere Strukturen und mehr Transparenz fordern, entsprechende Bemühungen um Anerkennung aber ignorieren. Die Schweiz ist in islampolitischer Hinsicht ein Entwicklungsland.
Reta Caspar: Das ist der absolut falsche Ansatz. Er beruht auf dem Mythos, dass Kirchen Menschen um sich scharen und sie beeinflussen können. Doch den Landeskirchen laufen die Leute davon. Das hat man bei der Minarett-Initiative gemerkt: Obwohl die Kirchen die Nein-Parole herausgegeben haben, wurde sie angenommen. Die Landeskirchen haben den Draht zu ihren Mitgliedern verloren, sind eine rein traditionelle Struktur geworden. Innerhalb einer Generation wird sich das auswachsen.
«Das System der Landeskirchen hat ausgedient.»  
Reta Caspar

Wäre es möglich?  

Es ist komplex, aber machbar. Komplex, weil es in der Schweiz keine eidgenössischen, sondern nur kantonale Regelungen gibt und weil die islamische Gemeinschaft keine kirchlichen Strukturen analog dem kirchlichen Klerus kennt. Anpassungen auf muslimischer Seite sind aber machbar. Schwieriger ist die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz. Einer Anerkennung müsste in den meisten Kantonen per Volksentscheid zugestimmt werden. Nicht zuletzt dank politischem Populismus ist das Anliegen heute praktisch chancenlos.  
Das Problem ist, dass es nicht den einen Islam gibt, den man anerkennen könnte. In den Moscheen in der Schweiz treffen sich eher ethnische Gemeinschaften und unter den Moscheen weichen die Ideologien ab. Ausserdem ist es nicht die Aufgabe des Staates, über ein religiöses Bekenntnis zu entscheiden. Welche Kriterien soll man denn dazu heranziehen?  
«Nicht zuletzt dank politischem Populismus ist das Anliegen heute praktisch chancenlos.»  
Rifa'at Lenzin

Was würde es bringen? 

Das System der Landeskirchen regelt die Kompetenzen zwischen Staat und Kirche. Es schafft Transparenz und verhindert gegenseitige Einmischung. Die Muslime hätten die Möglichkeit eine eigene Steuer zu erheben, eigene Friedhöfe zu pflegen, qualitativ besseren Religionsunterricht abzuhalten und Seelsorge in Spitälern und Gefängnissen zu betreiben.  
Nichts. Besser wäre es, das System der Landeskirchen ganz aufzugeben. Es diente ursprünglich dazu, die konfessionellen Konflikte zu entschärfen. Das ist nicht mehr nötig. Religionsgemeinschaften sollten sich selbständig als Vereine organisieren und sich über Mitgliederbeiträge finanzieren. Sollte der Islam anerkannt werden, würde es wahrscheinlich sehr viel weniger Muslime geben, denn tatsächlich praktizierend sind vielleicht 10-15 Prozent der Muslime.  
«Sollte der Islam anerkannt werden, würde es wahrscheinlich sehr viel weniger Muslime geben.»  
Reta Caspar

Würde es gegen die Radikalisierung helfen?  

Ja und Nein. Fundamentalistische Kreise haben kein Interesse an Transparenz, sie schotten sich eher ab und bilden eine geschlossene Gemeinschaft. Radikale Muslime verkehren in der Schweiz in der Regel nicht in etablierten Moscheevereinen. Dennoch könnte es präventiv gegen Extremismus wirken, weil die religiöse Ausbildung dank der Anerkennung besser würde.  
Es gibt absolut keine Hinweise darauf, dass durch staatliche Organisation die Radikalisierung von Einzelnen verhindert werden kann. 
«Dennoch könnte es präventiv gegen Extremismus wirken, weil die religiöse Ausbildung dank der Anerkennung besser würde.»  
Rifa'at Lenzin

Was wäre das Signal?  

Es wäre ein Zeichen des Respekts gegenüber der muslimischen Bevölkerung. Sie wären den anderen Religionsgemeinschaften zumindest auf dem Papier gleichgestellt und würden gleichbehandelt. Zudem könnten sie wie die anderen Landeskirchen von der Unternehmens-Kirchensteuer profitieren, die anteilsmässig verteilt und für nicht-kultische Projekte eingesetzt werden kann – Jugendprojekte beispielsweise. Die islamischen Gemeinschaften sind notorisch unterfinanziert.
Die Landeskirchen würden sich einmal mehr in ihrer Existenz legitimiert fühlen. Deswegen tragen gerade die christlichen Gemeinschaften das Anliegen der islamischen Gemeinschaften auch immer lautstark mit. Sie fürchten selber um ihre eigene Existenz und Akzeptanz.  

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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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crust_cheese
26.01.2015 19:58registriert Oktober 2014
Raus mit den Kirchen!
Die haben im modernen Staat absolut keine Daseinsberechtigung als Landeskirchen. Lasst den Menschen ihre Religion, aber mit Politik und Staat darf und kann das nichts zu tun haben.
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smoe
26.01.2015 21:26registriert Januar 2014
Eigentlich seltsam, dass wir 2015 immer noch über Trennung von Staat und Kirche diskutieren müssen. Wir reden doch auch nicht über die Trennung von Staat und Hamsterzuchtvereinen.
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Randen
26.01.2015 20:37registriert März 2014
Verantwortungsbewusste, interessierte Menschen mit selbstvertrauen anstatt Gottvertrauen braucht die Welt. Am besten gar keine Landeskirchen mehr. Ramen!
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