Carlos bäuchlings in Jeans auf seinem Bett, Carlos' glänzende Muskeln im Gym, Carlos auf Boxsäcke eindreschend: Wer sich auf neue Bilder von Carlos gefreut hat, wurde vom heutigen Dokumentarfilm auf SRF 1 enttäuscht. Er selber wollte nichts damit zu tun haben.
Aber um Carlos ging es eben nur am Rande im quasi zweiten Teil zum schweizweit bekannten Jugendstraftäter. Angefangen hatte die Geschichte um Carlos im letzten Sommer mit einem SRF-«Reporter»-Film von Hanspeter Bäni. Das Sondersetting für den 17-jährigen Straftäter, das fast 30'000 Franken kostete, wurde damals zum Sinnbild für die Schweizer «Kuscheljustiz» und damit zum Medien-Skandal des Jahres schlechthin.
Der neue Film titelt: «Zwischen Recht und Gerechtigkeit», und er liefert das Wissen nach, das die Schweiz schon vor dem «Fall Carlos» gebraucht hätte: Wie geht die Schweiz mit ihren jugendlichen Straftätern um? Was ist recht und was ist gerecht? Wollen wir auffällige Jugendliche bestrafen oder erziehen? Diesen Fragen gehen die Regisseure Hanspeter Bäni und Simon Christen nun nach – und das gelingt.
Der neue Film verkommt nicht zur grossen Entschuldigung von Bäni, dessen erste Reportage über Carlos den leitenden Zürcher Jugendanwalt Hansueli Gürber den Job kostete und Carlos zurück ins Gefängsnis brachte. Er fungiert auch nicht als blosses Verteidigungsstück Gürbers. Der inzwischen pensionierte Jugendanwalt darf sich allerdings endlich erklären – wahrscheinlich gerechtfertigt für einen Mann, dem damals trotz grosser Kritik an seiner Arbeit der Mund verboten wurde.
Der Einstieg des Dokfilms gehört Carlos Opfer Ahmed Y. und führt mitten in die Thematik: Sollen Täter im Strafvollzug für ihre Taten büssen – wie Opfer Ahmed Y. es wünschte – oder sollen die Massnahmen zukünftige Taten verhindern? Die Schweiz wählt den zweiten Weg – und das erfolgreich.
Anhand eines Vergleichs mit dem amerikanischen Drill-Modell zeigen Bäni und Christen die Erfolgsquoten des Schweizer Modells auf: 0,6 Morde pro 100'000 Einwohner in der Schweiz stehen 4,7 in den USA gegenüber. Um 50 Prozent wird die Rückfallquote dank Erziehung, Therapie und Möglichkeit zur Ausbildung gesenkt. Sogar Russland orientiert sich bei seiner Jugendstrafrecht-Reform am Schweizer Erfolgsmodell.
Das wissenschaftliche Gewissen des «Dok»-Films stellt Marcel Niggli, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie dar: «Ein stabiler Bestand von empirischen Erkenntnissen zeigt, dass weder die Strafart noch die Schärfe der Strafe massgeblich auf die Rückfallquote Einfluss haben», sagt er. Und gibt damit Hansueli Gürber Recht: «Natürlich ist das ein grosser Aufwand für den Täter, aber auch für die Gesellschaft, wenn er danach nicht wieder zum Täter wird», sagt er. Solche Fälle gebe es aber ganz wenige und deswegen eine «radikale Umkehr zu machen», fände Gürber schade.
Dazwischen flechten die Autoren die Geschichten von Gianni C., Gianluca B. und Igor G. – Geschichten von Jungs, die ständig draufhauten und sich schon immer quer stellten, Jungs wie Carlos. Zwei von ihnen haben es geschafft: Gianni und Gianluca gehen mit Lehre und Selbstverantwortung aus dem Jugendheim.
Das dritte Fallbeispiel, Igor G., kostet den Steuerzahler ebenfalls 25'000 Franken monatlich und stellt sich, nachdem seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat, wieder quer. Für ihn muss die Jugendanwaltschaft eine neue Lösung suchen. Eine Lösung, die vielleicht wie bei Carlos bis zu 30'000 Franken pro Monat kosten könnte, ein Sondersetting, bei dem sich Laien wiederum an die Stirn greifen dürften. Aber möglicherweise ist es Igor G.s' letzte Chance. Es ist eine Chance für Härtefälle wie ihn, dank der diese vielleicht irgendwann ein eigenständiges und gewaltfreies Leben führen werden.
Zurück bleibt der Eindruck, der Film wolle uns sagen: «Hätten wir das alles doch schon vor Carlos gewusst!»