Paul* hat Sex mit seiner Tinder-Bekanntschaft Kathrin* – und plötzlich platzt das Kondom. Wegen der Ansteckungsgefahr wollen sich nun beide auf Syphilis, HIV und Co. testen lassen – kein Einzelfall in Zeiten von Matches und Swipes. Eine watson-Recherche zeigt: Schweizer Zentren, die Tests für Geschlechtskrankheiten anbieten, verzeichnen einen Rekordzulauf.
Das Walk-In-Labor in Zürich lässt auf Anfrage wissen, die Anzahl Kunden sei «klar steigend». Alleine zwischen 2016 und 2017 habe sich die dreistellige Anzahl Patienten für Syphilis-, Chlamydien und Gonokken-Tests mehr als verdoppelt. Auf Syphilis wollten sich ganze 150 Prozent mehr testen lassen. Das Zentrum führte letztes Jahr auch über 88 Prozent mehr HIV-Tests aus.
Auch beim TEST-IN-Angebot der Zürcher Aids Hilfe, das Kunden anonym auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen testet, ist die Tendenz steigend. Laut Yoyce Dreezens, Bereichsleiterin Prävention- und Migration, liessen sich im Jahr 2015 935 Personen auf Syphilis testen, 2016 waren es 1023 und im letzten Jahr mit 1473 über 400 mehr. Dreezens: «Gleichzeitig gibt es immer mehr Stellen, die solche Tests anbieten.»
Einen Grund für den Boom sehen Fachleute in Dating-Apps wie Tinder. Die App zählt mittlerweile weltweit mehr als 50 Millionen Nutzer und eine Million zahlende Premium-Kunden. «Dieser Boom der Dating-Apps führt zu häufigeren Risikosituationen, vor allem wenn gleichzeitig der Kondomgebrauch abnimmt», sagt Urs Karrer, Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital Winterthur. «Es war noch nie so einfach wie heute, schnell einen Sexpartner zu finden.» Da sich auf Tinder und Co. besonders viele Leute mit offenem Sexverhalten tummelten, sei es wahrscheinlich, dass der Liebhaber oder die Liebhaberin zuvor bereits viele andere Partner hatte. «Damit steigt das Risiko, auf einen infizierten Partner zu treffen.»
Laut Zahlen des Bundesamts für Gesundheit haben sich die gemeldeten Fälle von Syphilis oder auch Tripper in den letzten zehn Jahren verdoppelt. «Weil das Schutzverhalten durch Safer Sex abgenommen hat», so Karrer Ausserdem würden die Fallzahlen auch wachsen, weil sich Risikogruppen vermehrt testen lassen, vor allem Männer, die mit Männern Sex haben.
Kuppel-Apps stehen nicht zum ersten Mal im Verdacht, Geschlechtskrankheiten zu fördern. Forscher aus Neuseeland führten 2012 mehr als die Hälfte eines Syphilis-Ausbruchs auf Grindr zurück, auch durch US-amerikanische Wissenschaftler wird Tinder und Co. die Zunahme von Ansteckungen mit Geschlechtskrankheiten angelastet. Als präventive Massnahme kämen für Infektiologe Karrer deshalb auch Warnhinweise direkt auf den Apps in Frage. «Doch es wird wohl schwierig, die Betreiber davon zu überzeugen.»
Eine andere Erklärung hat Michael Ganz, Geschäftsleiter der Stelle Sexuelle Gesundheit Aargau. Er vermutet hinter der steigenden Test-Nachfragen eher erfolgreiche Informationsmassnahmen und der Trend zum gesunden Lifestyle. «Leute, die regelmässig Sport treiben, sich vegan ernähren und allgemein auf die Gesundheit achten, werden sich tendenziell auch häufiger auf sexuell übertragbare Krankheiten testen lassen.»
Besorgten Personen stehen für Geschlechtskrankheits-Tests verschiedene Anbieter zur Auswahl: Arztpraxen, Labor-Zentren oder auch Tests für zu Hause. Wer auf Google danach sucht, stösst schnell auf die Seite lassdichtesten.ch. Das Angebot ist erst seit einigen Monate online und bietet neben Tests für Herpes, Tripper, Chlamydien und Co. ohne Voranmeldung auch Entnahmesets zum heimschicken an. Doch warum konsultieren die Betroffenen nicht einfach ihren Hausarzt? Geschäftsleiter Boris Waldvogel: «Viele Leute schämen sich, Geschlechtskrankheits-Tests beim Hausarzt zu machen, den sie seit Jahren kennen.» Ausserdem sei das Testen zu Hause zeitsparend.
Eine Rolle spielt laut den befragten Labors auch der finanzielle Aspekt. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für die Tests beim Arzt zwar, wenn ein konkreter Verdacht auf eine Ansteckung besteht. Doch: Viele Leute haben hohe Franchisen und müssen die Rechnung trotzdem aus der eigenen Tasche zahlen. Und beim Arzt werden neben der Laborrechnung zusätzlich die Kosten einer Konsultation fällig. Laut Walk-In schätzen die Kunden auch die schnellen Resultate und das unkompliziertere Vereinbaren von Terminen.
Daniel Koch, Leiter Abteilung übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG): «Wir begrüssten niederschwellige Angebote generell, denn damit lassen sich möglicherweise mehr Leute erreichen. Wichtig ist aber, dass die Zentren seriös arbeiten.» Zentral sei dabei eine gründliche Vorinformation, die erklärt wie vorgegangen werden muss, sollte ein Test positiv ausfallen. In diesem Fall müsse das Ergebnis mit einem zweiten Test bestätigt werden. «Diese Vorinformation ist besonders wichtig bei Angeboten, die das Testzubehör und Resultate nach Hause schicken.»
Auch für HIV-Tests könnte in der Schweiz schon im Sommer ein solches Kit auf den Markt kommen, wie die «Zentralschweiz am Sonntag» und die «Ostschweiz am Sonntag» berichteten. Dies war bisher verboten. Die Kommission für sexuelle Gesundheit sowie das BAG gaben Anfang April eine entsprechende Empfehlung ab. Das Dossier liegt nun beim Heilmittelinstitut Swissmedic, das über die Zulassung entscheiden wird.
*Name der Redaktion bekannt.