Schweiz
Gesundheit

Warum die Schweiz bislang keinen Affenpocken-Impfstoff hat

«Affenpocken können alle treffen» – Bundesrat Alain Berset mit Pusteln im Gesicht: Mit dieser Fotomontage stürmt die LGBT-Community derzeit beim Bund. Das Problem liegt aber tiefer.
«Affenpocken können alle treffen» – Bundesrat Alain Berset mit Pusteln im Gesicht: Mit dieser Fotomontage stürmt die LGBT-Community derzeit beim Bund. Das Problem liegt aber tiefer. Hintergrundbild: keystone, Fotomontage: Checkpoint Zürich

Probleme auf allen Ebenen: Warum die Schweiz bislang keinen Affenpocken-Impfstoff hat

Die LGBT-Gemeinschaft flutet Bundesrat Alain Bersets Posteingang mit Forderungen nach einer schnelleren Impfstoffbeschaffung gegen das Affenpocken-Virus. Schuld an der Misere ist aber nicht nur die Politik.
29.07.2022, 06:0529.07.2022, 18:58
Mehr «Schweiz»

Das Affenpockenvirus macht sich auch in der Schweiz breit. Betroffen sind in erster Linie Männer, die sexuell gleichgeschlechtlich unterwegs sind. Behördlichen Angaben zufolge steckten sich bereits mindestens 234 Personen damit an. Ihnen droht wegen der Infektion – so lautet bislang die europaweite Erfahrung – zwar kein Tod. Sie führt aber zu teils heftigen Immunreaktionen, Fieber und einem Hautausschlag, der sichtbare Krusten und Narben hinterlässt.

Die beste Waffe dagegen ist ein Impfstoff, der aus längst vergangenen Zeiten stammte. Er heisst Imvanex. Sein Wirkmechanismus wurde in den 1970er-Jahren weltweit und in der Schweiz gegen die alt bekannten Menschenpocken eingesetzt. Er gilt als bewährt, sicher und vor allem hilfreich, um auch schwere Symptome der Affenpocken zu verhindern. Für die USA und die Länder des Europäischen Wirtschaftsraums war deshalb klar, dass Imvanex auch im Kampf gegen die aktuelle Pandemie zugelassen und in grossen Mengen bestellt wird. Bislang ist die Rede von mindestens 160'000 eingekauften Impfdosen.

Vom Grosseinkauf profitieren nicht nur gefährdete Männer in den EU-Ländern und den USA. Ein Teil des Impfstoffs wird auch an die Länder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) Island, Liechtenstein und Norwegen geliefert.

Aussen vor bleibt hingegen die Schweiz.

Impfstoff-Zulassung ohne Gesuch des Herstellers nicht möglich

Die Gründe dafür sind vielfältig und haben vor allem damit zu tun, dass Imvanex noch nicht vom Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic zugelassen wurde. Schuld daran ist für einmal nicht die Bürokratie. Es ging bislang schlicht kein Zulassungsgesuch ein, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Anfrage von watson mitteilt: «Es liegt in der Verantwortung des Pharmaunternehmens, einen Antrag auf Zulassung bei Swissmedic einzureichen. Das ist bisher nicht erfolgt.» Die Behörde nennt zwar keinen Namen, im Fokus steht aber das dänisch-deutsche Unternehmen Bavarian Nordic, welches den Impfstoff Imvanex herstellt.

«Es liegt in der Verantwortung des Pharmaunternehmens, einen Antrag auf Zulassung bei Swissmedic einzureichen. Das ist bisher nicht erfolgt.»
Bundesamt für Gesundheit

Für die besonders gefährdeten Männer wäre diese fehlende Zulassung kein Problem, da in solchen Fällen eigentlich eine Sonderregelung existiert. Fehlt für einen pharmazeutischen Wirkstoff eine behördliche Zulassung, so können Ärztinnen und Ärzte nach eigenem fachlichen Ermessen trotzdem «kleine Mengen von Arzneimitteln und Impfstoffen» einführen. Die Überlegung dahinter: Notwendige medizinische Behandlungen sollen nicht verhindert werden, nur weil sich ein bürokratischer Verwaltungsentscheid verzögert.

Diese Lösung kommt aber derzeit nicht infrage, wie watson-Recherchen zeigen: Bavarian Nordic verkauft Imvanex derzeit nur in grossen Mengen und an Staaten. Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet das, dass die erlaubten Kleinstbestellungen gar nicht bedient werden. Aus der Branche hört man, dass mindestens 10'000 Impfdosen auf einmal bestellt werden müssten. Zu welchem Preis ist zwar nicht öffentlich. Berücksichtigt man aber die Vertragssummen der US-Behörden, so müsste eine Schweizer Arztpraxis für eine solche Mindestbestellmenge mindestens einen sechsstelligen Frankenbetrag aufwenden. Das ist nicht nur viel, es würde auch dem Heilmittelgesetz widersprechen, das ausdrücklich nur die Einfuhr von «kleinen Mengen» von unbewilligten Impfstoffen vorsieht.

Gesamtbundesrat lehnte die Schaffung der Notfallzulassung ab

Auch eine sogenannte «Notfallzulassung» ist in der Schweiz nicht vorgesehen. Eine solche wurde 2021 vom FDP-Nationalrat Christoph Eymann gefordert: Sein Vorstoss wollte Swissmedic erlauben, auch ohne vollständiges Zulassungsdossier ein Vakzin zuzulassen – falls vergleichbare Behörden im Ausland den Wirkstoff bereits geprüft hatten. Der Bundesrat lehnte dies ab, weil er der Ansicht war, dass «Notfallzulassungen» bereits möglich seien – es brauche ja nur ein Gesuch. Der Vorstoss landete nach Eymanns Rücktritt nie im Parlament.

«Einzige weitere Voraussetzung (…) ist das Einreichen eines reduzierten Zulassungsgesuchs bei der Swissmedic.»
So begründete der Gesamtbundesrat vor einem Jahr seine Ablehnung zur Schaffung von Notfallzulassungen

Die Situation ist also verzwickt. Das bereitet der betroffenen Gemeinschaft grosse Sorgen. Checkpoint Zürich, die medizinische Anlaufstelle für LGBT-Menschen, forderte deshalb derzeit mit Massenmails mehr Tempo: Der Gesundheitsminister Alain Berset solle die Impfung «schnellstmöglich beschaffen». Der ärztliche Co-Leiter der Institution, Benjamin Hampel, sagt gegenüber watson: «Das Zulassungsverfahren wurde schlicht nicht für solche Notfälle konzipiert. Der Bund muss deshalb rasch eine Lösung finden, um unnötiges Leid zu verhindern.»

Eine mögliche Lösung würde bedeuten, dass der Bund anstelle der einzelnen Ärztinnen und Ärzten die Beschaffung zentral übernimmt und so grössere Mengen bestellen kann. Nur dürfte das nicht so einfach sein: Anders als beim Covid-Impfstoff fehlen die Gesetze, die das vereinfachen könnten. Vom Bundesamt für Gesundheit heisst es deshalb, dass derzeit «die Möglichkeiten einer zentralen Beschaffung» geprüft werden. Ob und vor allem wann dieses Vorhaben den Gefährdeten helfen wird, ist offen. Die Behörde sagt dazu nur knapp: «Da unterschiedliche Parteien am Prozess beteiligt sind, sind die Prozesse komplex.»

Kriterien für «besondere Lage» erfüllt?

So berichtete die «NZZ am Sonntag» vor einem Monat, dass nicht nur der Bund, sondern auch der Kanton Zürich bereits bei Bavarian Nordic erfolglos anklopfte. Die Zürcher Gesundheitsdirektion begründete die Absage Ende Juni damit, dass der Impfstoff «weltweit nur schwer erhältlich» sei. Dass dies mit den vermutlich tiefen Bestellmengen des Kantons zu tun hatte, war damals jedoch nicht öffentlich bekannt. Die kürzlich getätigten Grossbestellungen der EU-Kommission erlauben Zweifel an der damals geäusserten Erhältlichkeit.

Die Herausforderungen erinnern an die ersten Wochen der Covid-Pandemie: Damals wie heute waren die Kantone nicht in der Lage, die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit einzudämmen. Hinzu kommt, dass die Weltgesundheitsorganisation damals wie heute eine Virusverbreitung als «gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite» erklärt hatte. Beide Punkte zählen im Epidemiengesetz als Kriterien für die «besondere Lage», wenn in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht. Anders als während der Coronapandemie betrifft die Verbreitung des Affenpockenvirus zurzeit aber nur die Gesundheit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe: Männer, die Sex mit Männern haben.

«Die Umstände für eine besondere Lage sind in der Schweiz nicht gegeben.»
Bundesamt für Gesundheit

Das BAG geht derzeit von einer «mässigen Gefahr für die Bevölkerung» aus, auch wenn hierzulande die Affenpockeninfektionen leicht zunehmen. Die Behörde schliesst deshalb eine Ausdehnung des Ausbruchs auf weitere Bevölkerungsgruppen nicht aus. Stellvertretend für Bundesrat Bersets Innendepartement schlussfolgert das Bundesamt jedoch, dass zurzeit «die Umstände für eine besondere Lage in der Schweiz nicht gegeben sind». Auch sehe man derzeit keinen unmittelbaren Bedarf, die Strategie anzupassen, weil bisher keine schweren Verläufe bekannt sind und Infektionen rasch entdeckt und gemeldet werden.

Die Herstellerfirma reagierte bis Redaktionsschluss nicht auf eine schriftliche Anfrage.

Korrekturhinweis: In einer ersten Version hiess es, Christoph Eymann sei wegen der Wahl in den Basler Regierungsrat aus dem Parlament zurückgetreten. Das ist falsch. Richtig ist: Er trat altersbedingt zurück. Der Fehler wurde korrigiert.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
78 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
B-M
29.07.2022 09:01registriert Februar 2021
Es sei in der Verantwortung der Impfstoff-Hersteller, ein Gesuch zu stellen.

Hier liegt wohl der Hund begraben. Als kleines Land sind wir für die Hersteller keine Priorität. Deshalb müssten wir proaktiv das Zulassungsverfahren starten, und nicht darauf warten, dass der Hersteller das tut.
2510
Melden
Zum Kommentar
avatar
chicadeltren
29.07.2022 10:00registriert Dezember 2015
Selbstverständlich ist auch hier die Bürokratie schuld. Man könnte Arzneimittel, die von der EMA zugelassen sind, auch einfach automatisch in der Schweiz zulassen. Stattdessen muss jede Pharmafirma für den relativ kleinen schweizer Markt ein mehrere Ordner umfassendes Extragesuch erstellen. Da dürfte jedem klar sein, wo wir auf der Prioliste bei der Launchplanung so landen.
2613
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bär51
29.07.2022 07:59registriert Juni 2019
Als Mitglied des EWR hätten wir also problemlos Zugang zum Impfstoff, so wie Liechtenstein.
Aber Blocher sei Dank sind wir ja frei, wie unsere Väter waren...
Wir sehen es auch im europäischen Forschungsprogramm , wo wir ausgeschlossen sind - und wie es bim Gas sein wird, sehen wir dann kommenden Winter.
4742
Melden
Zum Kommentar
78
Ausgeweitete Strafuntersuchung nach Verkehrsunfall von Norman Gobbi

Die Tessiner Staatsanwaltschaft weitet die Strafuntersuchung im Nachgang zu einem Verkehrsunfall von Regierungsrat Norman Gobbi aus. Konkret wird die Strafuntersuchung gegen einen Polizisten sowie einen Gruppenleiter der Tessiner Kantonspolizei ausgeweitet.

Zur Story