Auslandschweizer gibt es einige. 2017 waren es gemäss Bundesamt für Statistik genau 751'800. Sie verteilen sich auf fast der ganzen Welt.
Auf São Tomé und Príncipe allerdings gibt es nur einen. Reto Scherraus-Fenkart, Jahrgang 1964. 1997 ist er zum ersten Mal auf São Tomé und Príncipe gelandet. Seit 2007 ist er der einzige gemeldete Schweizer auf dem afrikanischen Inselstaat in Äquatornähe.
Herr Scherraus-Fenkart, Sie sind der einzige auf São Tomé und Príncipe registrierte Schweizer. Wie landeten Sie auf dem kleinen Inselstaat?
Reto Scherraus-Fenkart: Ich verliess die Schweiz nicht mit dem Ziel São Tomé und Príncipe. Eigentlich war damals meine Traumdestination Brasilien. Nach der Kantonsschule reiste ich aber erst einmal nach Portugal. Meine Haare reichten bis weit über die Schultern, ich hatte einiges an Flausen im Kopf und dachte, während ich mir meinen Lebensunterhalt als Gärtnergehilfe in einem Hotelbetrieb eines Schweizers verdiente, dass ich mir später einmal als Kunstmaler ein interessantes Leben gestalten könnte.
Seither leben Sie im Ausland?
Nein. Mit meinem Vater hatte ich einen Deal: Kantonsschule abschliessen, RS absolvieren, mindestens einen Monat in einer Bank arbeiten – danach durfte ich machen, was ich wollte. Ersteres hatte ich ja bereits mit Ach und Krach bestanden. Ich schnitt mir also noch die Haare ab, absolvierte die RS und den Monat in der Bank. Aber danach, im «zarten Alter» von 20, reiste ich sofort zurück nach Portugal.
Wieder als Gärtnergehilfe oder als Kunstmaler?
Nun, ich malte zirka 50 Bilder und verkaufte eines – welches mir bis heute nicht bezahlt wurde. Da wusste ich: Mein Leben verläuft wohl anders als geplant.
Erzählen Sie.
Eine berufliche Neuorientierung war schon rein finanziell nötig. Ein guter Freund riet mir, dank meiner guten Sprach- und Landeskenntnisse in die Immobilienbranche einzusteigen. Ich wurde also zum jüngsten zugelassenen Makler von Portugal und hatte richtig Spass.
Wie kamen Sie denn überhaupt nach São Tomé?
Das war einige Jahre später, 1997. Ich lebte noch in Portugal, als eines Tages ein guter Freund von mir erzählte, dass er auf São Tomé und Príncipe früher Land besessen hätte, dieses allerdings im Zuge der Unabhängigkeit verstaatlicht wurde. Er meinte: Du kannst es doch so gut mit den Leuten und kennst das Immobiliengeschäft. Kannst du nicht hingehen und versuchen, mein Land zurückzubekommen?
Dann machten Sie sich einfach auf?
Ja, es war für mich die ideale Mischung zwischen Freundschaftsdienst, einem möglichen Geschäft und vor allem meinem insgeheim langgehegten Wunsch, dieses Land zu sehen, von dem ich schon einiges gehört hatte, das aber so gut wie keiner wirklich kannte. Also stimmte ich zu.
Und reisten ins gelobte Land ...
Damals flog nur einmal alle drei Wochen ein Flugzeug von Lissabon nach São Tomé und Príncipe. «O dia do voo» (der Tag des Fluges) war das Highlight schlechthin für die lokale Bevölkerung. Nach der Zwischenlandung in Abidjan kam man im kleinen São Tomé an und wurde gleich – so schien es mir damals – vom ganzen Land empfangen (Anm. der Red.: Damals lebten rund 130'000 Menschen auf der Insel). Es ging noch jahrelang so, dass man einen Wildfremden in der Stadt fragen konnte, ob XY im Land sei und man bekam ganz natürlich eine manchmal sogar detaillierte Antwort. Das ist heute vorbei.
Sie hatten dann also drei Wochen Zeit, um die Sache mit dem Landstück Ihres Freundes zu klären. Wie gingen Sie vor?
Am zweiten oder dritten Tag wurde ich vom damaligen Premierminister Raul Wagner Bragança Neto empfangen. Dieser war ganz aus dem Häuschen: «Was, Sie sind Schweizer? Sie schickt der Herrgott», jubelte er, «ich wollte dringend mit einem Schweizer reden.» Ich musste innerlich schmunzeln. Wie sich herausstellte, hatte Bragança Neto eine politische Krise zu bewältigen und erhoffte sich wohl Tipps aus der Schweiz. Ich konnte seine politischen Probleme nicht wirklich lösen helfen. Aber wir verstanden uns auf Anhieb gut und blieben, bis zu seinem leider viel zu frühen Tod, Freunde. Während dieser drei Wochen verliebte ich mich in Land und Leute und fragte deshalb den Premierminister, ob es möglich wäre, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
Das klappte?
Am letzten Tag vor meinem Rückflug kam ein höherer Funktionär des zuständigen Ministeriums persönlich vorbei und überreichte mir das erwünschte Dokument. Somit stand ich praktisch in der «angenehmen Pflicht», wiederzukommen.
Und das Land Ihres Freundes gab es auch als «Abschiedsgeschenk»?
Nein. Da konnte ich leider nichts machen. Er erhielt es nicht mehr zurück.
Aber Sie kehrten zurück und wohnen seither auf der Insel?
Ich bin mittlerweile sogar Staatsbürger von São Tomé und Príncipe. Allerdings lebe ich nicht permanent auf der Insel. Wir haben auch Wohnsitz in Portugal und Uruguay und pendeln hin und her.
Fühlen Sie sich manchmal einsam als einziger Schweizer in einem fernen Land?
Ich fühle mich heute fast wie ein Portugiese auf São Tomé und Príncipe, denn ich bin hier auch in der portugiesischen Gemeinschaft gut integriert. Das «Alleiniger-Schweizer-sein-Gefühl» kommt nicht auf, da es durch diese Gemeinschaft übertroffen wird. Aber natürlich: Ich freue mich immer, wenn ich zwischendurch Schweizerdeutsch höre, zum Beispiel während des Hinflugs. Da gebe ich dann gerne auch ein paar Tipps.
Wie meinen Sie das?
Nun, touristisch steckt São Tomé in den Kinderschuhen. Äs isch scho nochli andersch. Zum Beispiel stehen am Flughafen keine Taxis. Wenn man da ankommt und kein Portugiesisch spricht, steht man da, staunt und kommt erst mal nicht weg. Ich habe schon mehr als einmal Taxi gespielt und Mitreisende vom Flughafen ins Hotel gebracht.
Sie helfen mittlerweile auch von Berufs wegen Schweizern. Sie sind unser Honorarkonsul auf São Tomé und Príncipe. Wie kam es dazu?
Früher war unsere Botschaft in Kinshasa (DR Kongo) für São Tomé zuständig. 2009 wurde nach 13 Jahren die Schweizer Botschaft in Luanda (Angola) wieder eröffnet. Der Botschafter bekam São Tomé und Príncipe, welches ja ein UNO-Mitglied ist, als Seitenakkreditierung zugeteilt. Er suchte jemanden, der ihm auf der Insel zur Hand gehen könnte.
Und der kam dann auf Sie zu?
Ja, er wusste, dass ich auf der Insel lebe und kontaktierte mich. Als ich angefragt wurde, war eine Zusage meinerseits für mich selbstverständlich. Der Rote Pass hat mir schon die eine oder andere Türe geöffnet. Mit der Ausübung dieses Amts kann ich meiner Heimat etwas zurückgeben.
Was macht ein Honorarkonsul eigentlich den ganzen Tag?
Vereinfacht gesagt: Ein Honorarkonsul ist wie ein Beamter seines Landes ohne Beamtenstatus und ein bisschen «Mädchen für alles». Wenn Bern, Botschaft oder das zuständige Konsulat etwas brauchen, wenn Schweizer eine Auskunft möchten oder in Not geraten oder wenn São Toméer etwas von der Schweiz wünschen, dann bin ich für diese Anliegen zuständig. Da gab es dann auch schon mal Fragen wie, ob auf São Tomé Löwen* leben ... Natürlich habe ich geantwortet, obwohl ich dazu nicht wirklich verpflichtet gewesen wäre. (lacht)
Was sind denn Ihre Hauptaufgaben?
Die Schweiz hält mit São Tomé und Príncipe weder rege Handelsbeziehungen, noch gibt's einen grossen Tourismusstrom. So leisten wir vor allem Goodwill-Arbeit und versuchen, damit Land und Leuten die Schweiz näherzubringen und gleichzeitig zu helfen. Wir haben übrigens auch eine 24-Stunden-Notfallnummer. Zum Glück wurde diese jedoch noch nie beansprucht.
Als Honorarkonsul verdienen Sie nichts.
Das ist richtig. Die Bezeichnung «Honorar» meint nicht, dass man ein Honorar bezieht, sondern, dass einem die Ehre zuteil wird, «seinen Ländern», also dem Entsender- und dem Gaststaat, dienen zu dürfen.
Was vermissen Sie für São Tomé aus der Schweiz am meisten?
Für das Volk und die Wirtschaft: Energie. Es gibt hier Apagões (Stromausfälle) am Laufmeter, der Strom des ganzen Landes wird immer noch mit Dieselgeneratoren gezeugt. Zudem ist auch das Gesundheitswesen ein grosses Problem. Ich stehe deshalb jederzeit Organisationen und Leuten als Verbindungsglied zu Diensten, die auf São Tomé Gutes tun wollen. Mit allem anderen komme ich eigentlich mühelos zurecht.
Was sind das für Dinge?
Die Pünktlichkeit ist so etwas. Wenn es regnet – und es regnet ja oft –, dann weiss man: Es wird später, meist sogar «sehr viel später». Und wenn man jemanden zum Mittagessen einlädt, dann können auch mal vier kommen. Das ist halt so. Wenn man das mal begriffen hat, ist das problemlos.
Haben Sie Schweizer Traditionen oder Eigenschaften bewahrt?
Ich habe ein Alphorn hier und spiele manchmal damit. Einmal reiste ich auf die kleine Insel Ilhéu das Rólas, südlich der Hauptinsel. Dort durchquert der Äquator das Land. Ich stand auf der Nordhalbkugel und pustete den Ton des Alphorns auf die Südhalbkugel, so was macht man nicht jeden Tag! Bei uns findet man übrigens fast immer Glarner Schabzieger, Bündner Fleisch und Schweizer Schoggi-Prügeli. «Old habits die hard.» Und mein Haus ist wohl der Ort, der dem Mittelpunkt der Welt am nächsten kommt, wo man ein Appenzeller Alpenbitter trinken kann. (lacht)
Gibt es auch Ähnlichkeiten mit der Schweiz?
Bei meiner Ansprache zur Eröffnung unseres Konsulats 2012 habe ich gesagt: «Beide gehören auf ihre Art zu den schönsten Ländern, die ich kenne, und sind gleichzeitig Inseln. Die eine im stürmischen Atlantik, die andere im stürmischen Europa.» Das ist für mich noch immer so. Und die beiden Länder verbindet übrigens auch ihre weltberühmte Schokolade.
Wie gehen die Einheimischen mit Ausländern um?
Inselbewohner sind auf der ganzen Welt verschlossener als Menschen vom Festland. Das hat nichts mit Ausländern zu tun, man ist einfach vorsichtiger. Im Allgemeinen ist der Ausländer hier willkommen, leider aber oft auch als Geldquelle. Ich höre immer wieder die «Branco»-Rufe («Weisser») und sehe dann ausgestreckte Hände.
Was bringt es Ihnen, Schweizer zu sein?
Als Schweizer werden wir – und dies nicht nur hier – oft noch immer als «Ideal» betrachtet. Alleine durch das Schweizersein wird man an vielen Orten noch immer geschätzt. Wir sollten diesem Ruf auf unseren Reisen Sorge tragen und nie vergessen, dass wir alle im Ausland, ob wir nun wollen oder nicht, kleine «Botschafter» unserer Heimat sind.
Was können wir von São Tomé lernen?
Das Leben etwas nonchalanter zu nehmen und uns an dem zu freuen, was wir haben. Die einzigartige Natur und die schönen Strände können wir in der Schweiz leider nicht nachbauen. Das hat es einfach hier.
Womit wir beim Tourismus wären. Wie sieht es da aus?
Der steckt noch in den Kinderschuhen. Man ist sich auf São Tomé nicht ganz sicher, was zuerst kommen soll: die Touristen oder die Infrastruktur. Man hat es aber überall gut und ist sicher.
Wie sieht die Infrastruktur denn aus?
In der Hauptstadt stehen drei Hotels mit europäischem Standard. Im Norden der Insel steht ein kleines Hotel mit guter Küche, liebevoll von einem Italiener geführt, im Süden findet man die Roça São João, geführt von einem im ganzen lusophonen Raum bekannten Fernsehkoch und Künstler. Es gibt Ökolodges, zum Teil etwas einfacher, aber durchaus traumhafte Aufenthalte anbietend und ganz, ganz unten, auf dem Inselchen, durch welches der Äquator verläuft (Ilhéu das Rólas), ein weiteres Pestana Resort. Es sollte hier niemandem langweilig werden. (lacht)
Wie sieht es mit der kleinen Insel Príncipe aus?
Vor allem Príncipe ist ein noch fast vergessenes Paradies. Wer sich die Mühe macht, hierhin zu kommen, findet eine wirkliche Perle. Príncipe wurde von der UNESCO als Weltnaturerbe klassifiziert. Der vermögende Südafrikaner Mark Shuttleworth betreibt dort drei Resorts, jedes einzigartig und schön, eines davon sogar ohne Zweifel mit Weltklasse-Niveau.
Mark Shuttleworth, der im April 2002 als erster Weltraumtourist für 20 Millionen Dollar zur ISS flog?
Genau. Er möchte an Príncipe ein positives Exempel von «Nachhaltigkeit und Entwicklung» statuieren – auf die Idee kam er angeblich, als er als erster Afrikaner aus dem Weltall auf die Welt blickte und dabei das Pünktlein Príncipe sah. Bis jetzt hat er Bemerkenswertes erreicht.
Wann würden Sie einen Besuch empfehlen?
Zu empfehlen ist vor allem die Gravana, die Trockenzeit, sie entspricht zeitlich in etwa unserem Sommer. In vielen Landesteilen regnet es zwar noch immer ab und zu, allerdings dauert dies jeweils nur 10 bis 30 Minuten, bis die Sonne wieder lacht. Die Temperatur fällt auf 22 bis 25 Grad ab, manchmal ist dann sogar der Atlantik etwas wärmer als die Lufttemperatur. Für mich persönlich ist das die schönste Zeit, die São Toméer laufen dann zum Teil in Mützen und Handschuhen rum und wir geniessen in Shorts den Strand. Ich habe aber Freunde, die kommen bewusst in der Regenzeit nach São Tomé, weil sie diese so gerne geniessen! Ist wohl Geschmacksache. Wer sich genauer informieren will: Kathleen Becker hat einen empfehlenswerten Reiseführer über das Land geschrieben.
Wie sieht es mit der Sicherheit aus?
Das ist immer wieder ein Thema. Die Kleinkriminalität nimmt zu. Bei mir wurde noch nie eingebrochen. Ein Freund meinte kürzlich: «Weisst du, was das beste an deinem Haus ist?» Er zeigte auf die Schweizer Fahne und antwortete gleich selbst: «Die hält dich sicher.»
Können Sie weitere Tipps geben?
Es ist wie überall. Man sollte das Glück nicht herausfordern. Wer sich an die elementarsten Grundregeln hält, hat keine Probleme. Einmal hatte ich nigerianische Gäste. Ich schlug ihnen nach dem Eindunkeln vor, dass wir die 500 Meter zu unserem Ziel zu Fuss zurücklegen. Sie waren völlig euphorisch, dass das geht. In Lagos wäre dies nicht möglich. Ich kann São Tomé und Príncipe jedem vernünftigen Touristen ans Herz legen – solange er nicht eine Ibiza-Stimmung sucht.
São Tomé liegt in der Gegend von Gabun und Äquatorialguinea, wo sehr viel Öl gewonnen wird. Das Land wurde auch schon als «zweites Kuwait» betitelt. Warum wird das Öl nicht gefördert?
Das Öl liegt sehr tief, was seine Förderung teuer macht. Und man ist sich seiner Qualität nicht ganz sicher. Seit Jahren handeln sich die verschiedenen Firmen die Felder zu. Niemand weiss, wie sich das entwickeln wird. Aktuell melden die Medien, dass Total/Sonangol einen neuen Versuch starten und auch die Firmen Galp und Kosmos wollen in drei ihrer vier Blocks mit der Förderung angeblich bald beginnen.
Die aktuelle Regierung wünscht sich jedoch nichts mehr, als das Land zu einem Dienstleistungsland zu machen und nicht auf das Erdöl angewiesen zu sein. Auch möchten sie die Landwirtschaft wieder vermehrt fördern, hier kann Kaffee und Kakao von allerhöchster Qualität angebaut werden und es gibt im Land bereits zwei Firmen, die eigene Schokolade produzieren.
Wie geht es mit Ihnen weiter? Kehren Sie irgendwann in die Schweiz zurück?
Ich habe noch Familie und Jugendfreunde in der Schweiz, diese Brücken wollte ich nie abbrechen. Hin und wieder besuche ich die Heimat. Kürzlich, zu meinem Geburtstag, genoss ich noch mit «friends and family» zum letzten Mal Bernhard Knechtles einzigartige Chäs-Röschti mit Spiegelei auf dem heute legendären Aescher im Appenzellerland. Aber was in Zukunft sein wird? Um Gottes Willen, nur nichts planen. Es kommt ja eh immer anders, was ab und zu gar nicht mal so schlecht ist.
* Für alle, die es wissen möchten: Es gibt keine Löwen auf São Tomé. Säugetiere fehlen sowieso fast gänzlich. Die Tierwelt besteht aus einer artenreichen Vogelwelt (u.a. Kraniche, Reiher, Marabus), diversen Schmetterlingen, Fröschen, Schlangen und Chamäleons. Dazu kommen viele endemische Pflanzen.
Das einzige giftige Tier des Landes ist die Cobra Preta («Schwarze Schlange, naja melnaoleuca), ihr Biss kann tödlich sein. Sie kommt nur auf der Insel São Tomé vor. Die wenigen Exemplare, die Scherraus-Fenkart in all den Jahren gesehen habe, seien jeweils gehäutet und gegrillt gewesen – die Cobra Preta gilt nämlich als Delikatesse, wie übrigens auch Fledermäuse.