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Erdogan-Anhänger sollen die Schweiz verlassen? Bullshit!

epa05873326 Turkish citizens wait to vote for the Turkish constitution referendum, in the Turkish consulate in Zurich, Switzerland, 27 March 2017. A constitutional referendum is due to be held in Turk ...
Wahlberechtigte vor dem türkischen Konsulat in Zürich.Bild: EPA/KEYSTONE
Kommentar

Erdogan-Anhänger sollen die Schweiz verlassen? Was für ein Bullshit

18.04.2017, 19:2119.04.2017, 10:44
William Stern
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«Aufruf: 38 Prozent der in der Schweiz lebenden Türken sollen freiwillig nach Hause reisen», twitterte Bernhard Guhl am Ostermontag. Die Botschaft des BDP-Nationalrats ist unmissverständlich: Wer in der Schweiz lebt und für Erdogan gestimmt hat, der hat hier nichts mehr verloren.

Aus Deutschland waren ähnliche Stimmen zu vernehmen: Der ehemalige Türkei-Korrespondent des «Spiegels», Hasnain Kazim, schrieb in einem vielbeachteten Beitrag, dass bei denen, die für Erdogan votierten, die «Integration tatsächlich gescheitert» sei. Aber die Schuld, so Kazim, «liegt nicht bei Deutschland».

Vorweg: Die Abstimmung in der Türkei fand unter widrigsten, ja undemokratischen Bedingungen statt. Seit dem Putsch vor einem Jahr herrscht am Bosporus Ausnahmezustand. Die Gerichte, eigentlich die Pfeiler des Rechtsstaats, wurden von der regierenden AKP auf Linie gebracht. Oppositionelle Medien wurden dicht gemacht, unliebsame Journalisten des Landes verwiesen oder gleich eingekerkert. Und der Präsident, eigentlich von Verfassung wegen zur Unabhängigkeit verpflichtet, machte keinen Hehl daraus, wohin er die Türkei zu lenken gedenkt: In die autoritäre Sackgasse, in die Abhängigkeit eines einzelnen Mannes: Recep Tayip Erdogan.

Und ja: Auch wenn die Demokratie dem Volk theoretisch alle Macht in die Hände legt: Schrankenlos ist sie nicht. Dafür sorgen der Rechtsstaat, die Medien, die als vierte Gewalt fungieren, übergeordnetes Völkerrecht und die Zivilgesellschaft. 

In der Türkei waren diese Voraussetzungen schon im Vorfeld der Referendums nicht gegeben. Das legen die zahlreichen Unstimmigkeiten und Unregelmässigkeiten während des Abstimmungssonntags nahe. Jetzt, nach dem Sieg des reaktionären AKP-Lagers, sind sie es noch weniger.

Aber: Forderungen, wonach Auslandstürken, die das Präsidialsystem Erdogans befürworteten, doch bitte die Heimreise antreten sollen, offenbaren ein seltsames Verständnis von Demokratie und Staatsbürgerschaft. Nicht genehme Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen den Abschied auf Nimmerwiedersehen nahelegt, gehört wenn schon ins Reich des Neo-Sultans Erdogan.

Dabei darf man nicht vergessen: Vor nicht allzulanger Zeit galt Erdogan als Brückenbauer. Als einer, der die traditionell starken Ultranationalisten in die Schranken wies, einer, der die Kurdenfrage zu lösen gewillt war, und einer, der für eine starke Türkei eintrat – vor dem Hintergrund der unsicheren geopolitischen Gemengelage in der Region. Viele sogenannte «Realisten» sprachen sich deshalb für Erdogan aus – als Bollwerk gegen den iranischen Gottesstaat und die saudischen Wahabiten. Dass jetzt ausgerechnet auch aus diesem Lager laute Stimmen gegen die Erdogan-Wähler ertönen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Bei den in der Schweiz lebenden Wahlberechtigten – von denen nur rund 38 Prozent Erdogans Ansinnen eines Präsidialsystems unterstützten – handelt es sich in vielen Fällen um schweizerisch-türkische Doppelbürger. Viele von ihnen sind in der Schweiz aufgewachsen, haben das Schweizer Schulsystem durchlaufen, konnten sich eine freie Meinung bilden – kurz: Sie genossen die Früchte einer freien Gesellschaft. Dass sie jetzt trotzdem gegen ebendiese Errungenschaften stimmten, sollte einem zu denken geben – und zur schonungslosen Analyse Anlass sein.

Populistische Plärrereien wie diejenige Guhls sind aber fehl am Platz. Ebensowenig zynische Bemerkungen wie die des «Spiegel»-Journalisten Kazim:

«Noch grinst sie, aber wenn diese Deutschtürkin in Berlin kapiert, dass Erdogan ihren roten Nagellack scheisse findet und sie dafür künftig sogar ernsthafte Probleme kriegen kann, vergeht ihr vielleicht das Lachen.»
Bild
bild: screenshot/facebook

Die Soziologin Bilgin Ayata spricht im Interview mit watson von einer Protestwahl: Viele junge MigrantInnen fühlten sich in dem Land, in dem sie leben, nicht akzeptiert, so Ayata. Dass sie als Reaktion einem Rattenfänger wie Erdogan verfallen, ist bedauerlich, aber nicht weiter erstaunlich. Die Identitätsfrage umtreibt die Bürger in der Postdemokratie ebenso sehr wie sozioökonomische Hard-facts. Gerade in der Schweiz stellen wir das bei Volksinitiativen wieder fest.

Gleichzeitig ist es aber auch ein Hoffnungsschimmer: Identitäten sind formbar. Mittels Werben für die besten Ideen und die besten Werte – und die Demokratie ist nun mal die beste aller politischen Ideen. 

Und selbst wenn die 38 Prozent Erdogan-Anhänger in der Schweiz die Schleifung der Demokratie bezweckten: Eine demokratische Gesellschaft wie die Schweiz muss es aushalten, dass in ihr auch Kräfte am Werk sind, die das Fundament des Rechtsstaats untergraben wollen – ob sie das in der Schweiz oder im Ausland tun, spielt keine grosse Rolle. Die Antwort auf diese politische Abwrack-Truppe kann nur in einem verstärkten Engagement für die Demokratie liegen – und in einer strikten, aber verhältnismässigen Anwendung des Gesetzes. 

Wer den Erdogan-Anhängern aber die Tür weisen will, der gibt sich vor allem einer verhängnisvollen Illusion hin: dass das Überleben der Demokratie von der Farbe des Passes abhängt. 

Die AKP im Siegestaumel – so jubeln Erdogans Anhänger auf den Strassen der Türkei

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Die AKP im Siegestaumel – so jubeln Erdogans Anhänger auf den Strassen der Türkei
Nach Auszählung praktisch aller Stimmzettel am Sonntagabend führt das Ja-Lager beim Referendum in der Türkei laut Medien mit 51,3 Prozent.
quelle: epa/epa / deniz toprak
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239 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Barracuda
19.04.2017 01:08registriert April 2016
Selten so einen Bullshit gelesen, um es im Teenie-Slang des "Journalisten" auszudrücken. Es ist haarsträubend, dass sogar bei dieser "Abstimmung" irgendein fadenscheiniger Grund gesucht wird, warum denn die Migranten auch hier nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können. Immer wird alles entschuldigt und so getan als könnten bzw. müssten die Migranten nicht auch Verantwortung tragen für ihr Tun. Wer hier aufgewachsen ist und nicht integriert ist, der hat etwas falsch gemacht und ist nicht integrierbar. Das Fazit von Herrn Guhl ist die einzig logische Schlussfolgerung.
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Peeta
18.04.2017 21:36registriert November 2015
Das ist beileibe kein Bullshit, lieber Herr Stern! Wer ein diktatorisches Staatssystem islamischer Prägung einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie vorzieht, soll auch in diesem selbstgewählten System leben dürfen bzw. müssen!
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Slowslam
18.04.2017 22:43registriert Februar 2016
Leider finde ich Herr Kazim Argumentationen um einiges besser als Ihre und meines erachtens hat sie Ihre Kritik nicht verdient Herr Stern.

http://m.spiegel.de/politik/deutschland/a-1143582.html


Und am Rande wer den Erdogan gewähl hat, hat doch klar das prinzip Demokratie nicht verstanden. Kuschelkurs gegen extremismus, das klappt nicht, aber nur weiter so den genau so fährt man die Demokratie an die Wand.
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