In den 80er-Jahren entwickelten sich in der Stadt Zürich soziale Spannungen innert kürzester Zeit zu wochenlangen Massenprotesten. Die Unruhen entzündeten sich, weil die Stadt die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum (AJZ) ablehnte, gleichzeitig aber einen Kredit von 60 Millionen Franken für das Opernhaus guthiess. Was folgte, waren Demonstrationen, Hausbesetzungen und Strassenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten.
Für die Schweiz waren die Jugendunruhen der 80er-Jahre die letzten grossen Massenproteste, die sich über mehrere Wochen hinzogen. Seither schaffen es zwar Themen wie Gleichberechtigung und Klimaschutz immer wieder Zehntausende auf die Strassen zu treiben. Diese Proteste sind aber kaum mit den Demonstrationen vor knapp 40 Jahren zu vergleichen.
Selbst der Besuch von Donald Trump am WEF 2018 vermochte nicht eine grosse Masse an Menschen für einen Protest auf der Strasse aufzubieten. Laut Veranstalter nahmen vergangenes Jahr 4500 Demonstranten an dem Gegenprotest teil.
Es drängt sich die Frage auf: Was ist eigentlich mit dem Strassenprotest passiert? Ist er in Zeiten von Social Media und erhöhtem Wohlstand überhaupt noch zeitgemäss? Vier Experten mit vier verschiedenen Perspektiven liefern Antworten.
Philipp Gebhardt, warum gehen Sie mit der «Bewegung für Sozialismus» auf die Strasse?
Philipp Gebhardt: Ich bin überzeugt, dass es viele gesellschaftliche Probleme gibt, die sich nicht im Parlament lösen lassen. Andererseits ist es auch so, dass es Probleme gibt, die das Parlament einfach nicht lösen will.
Zum Beispiel?
Ein Beispiel ist der Klimaschutz. Das Parlament schafft es nicht, wirksame Klimaschutzmassnahmen zu erlassen, während die Umwelt immer stärker unter der Belastung durch die grossen Konzerne und die Reichen leidet, welche mit Abstand am stärksten für den weltweiten CO2-Ausstoss verantwortlich sind. Das Problem ist eigentlich allen klar, doch gemacht wird nichts. Genau hier sind Strassenproteste das richtige Mittel, um Schwung in den Prozess zu bringen.
Wäre es nicht demokratischer, das Parlament mit einer Initiative auf die Missstände hinzuweisen?
Demonstrationen sind eine hoch demokratische politische Aktionsform. Dabei treffen sich viele Menschen und stehen gemeinsam und kreativ für ein Anliegen ein. Im Unterschied zum Ausfüllen einer Abstimmungsunterlage, was meist individuell geschieht, sind Demonstrationen kollektive Meinungsäusserungen. Natürlich gibt es nicht nur eine richtige Aktionsform. Die Pluralität von politischen Aktionsmöglichkeiten ist wichtig.
Wie sieht es mit alternativen Mitteln aus, zum Beispiel mit Facebook-Aufrufen?
Natürlich haben die Social-Media-Plattformen grosses Potential, besonders was die Mobilisierung angeht. Aber ein Facebook-Post oder ein Tweet wird niemals einen physischen Protest ersetzen können.
Also profitieren Protestaktionen grundsätzlich von Facebook und Co.?
Ich denke schon. Ein gutes Beispiel ist Greta Thunberg, die mit ihrem Video europaweit Klimaproteste ausgelöst hat. Die Idee, dass Schülerinnen und Schüler für das Klima die Schule bestreiken, wurde massgeblich durch sie inspiriert. Und damit haben die Schülerinnen und Schüler den Klimaschutz zumindest kurzfristig wieder zurück in die Nachrichten und damit ins Gedächtnis der Gesellschaft gebracht.
Was hat sich an Strassenprotesten sonst noch verändert?
Ich denke, Strassenproteste sind politisch kräftiger und globaler geworden. Zum Beispiel ging es in den Jugendunruhen von 1980 in Zürich hauptsächlich um Freiräume wie ein Autonomes Jugendzentrum. Wenn Frauen heute weltweit gegen geschlechtsspezifische Ungleichheiten und sexualisierte Gewalt protestieren, fordern sie damit gesellschaftliche Freiräume, die sich nicht auf ein Haus beschränken lassen.
Wofür würdest du jederzeit auf die Strasse gehen?
Grundsätzlich zur Bekämpfung von sozialen Ungleichheiten. Aktuell missfallen mir besonders die krassen Missstände im Gesundheitsbereich, die sich in schlechten Arbeitsbedingungen für die Angestellten und horrenden Kosten für die Benutzer äussern. Die Schuld dafür tragen die bürgerlichen Parteien und die Gesundheitsindustrie wie etwa die Krankenkassen: Wenn Krankenversicherungen nicht fähig sind, Kranke zu versichern, haben sie ihr Existenzrecht verwirkt.
Koni Frei, Sie waren bei der 68er- und 80er-Bewegung in Zürich dabei. Was war damals los?
Wir waren unzufrieden. Mit den öffentlichen Räumen, mit der Gesellschaft, der Polizei, der Politik. Und wenn man unzufrieden ist, muss man das zeigen. Darum sind wir auf die Strassen, haben Kundgebungen organisiert und Häuser besetzt. Wir haben uns den Freiraum genommen, der uns verwehrt blieb.
Und heute?
Wir haben viel erreicht, aber es gibt noch vieles, gegen das man sich wehren muss. Deshalb ist es gut, dass es noch andere gibt, die weiterhin Druck machen. Der ausserparlamentarische Weg ergänzt den politischen Weg. Auf beide Arten lassen sich Denkanstösse geben und herbeiführen. Das müssen wir unbedingt bewahren.
Trotzdem haben die Massenproteste seit 40 Jahren stetig abgenommen. Was hat sich verändert?
Zum einen sicher das Verhalten der Polizei. Heute werden sie in Deeskalation geschult, das war damals noch nicht so. Die Polizei und Demonstranten lieferten sich üble Kämpfe. Das sieht man heute eigentlich nur noch an Fussballspielen. Dann haben sich auch die Ideologien hinter den Bewegungen geändert, das ist sicher auch ein wichtiger Faktor.
Was ist mit den Ideologien passiert?
Sie wurden differenzierter. Früher konnten wir zumindest mehr oder weniger hinter der ideologischen Linie des Kommunismus stehen: Befreiung. Die aufgedeckten Gräuel der Sowjetunion haben das erschwert. Die einzigen Ideen, hinter denen heute sehr viele Menschen konsequent stehen können, sind jene der Frauenbewegung, der Befreiungskampf in Katalonien und Klimaproteste. Der «Women's March» hatte ja letztes Jahr auch über 10'000 Teilnehmer.
Also stehen viele geschlossen hinter dem Klimaschutz?
Hier wird es bereits schwierig. Nehmen wir das Beispiel der Elektroautos. Sie sind nicht von Mineralöl abhängig und produzieren viel weniger CO2. Auf der anderen Seite hinterlassen sie aber giftige Batterien. Ist man nun als Klimaschützer dafür oder dagegen? Diese Frage wird ganz unterschiedlich beantwortet.
Was würden Sie jungen Aktivisten aus ihrer Erfahrung mit auf den Weg geben?
Ich glaube, das Wichtigste ist die Erkenntnis, dass man Bewegungen wie jene von 1968 nicht gründen kann. Man kann durch das Anprangern von Missständen und das Organisieren von Gruppen zwar Beihilfe leisten, der Funke aber springt spontan.
Was wäre ein solcher Funke, der Sie wieder auf die Strasse treiben würde?
Wenn in der Schweiz Minderheiten unterdrückt würden.
Herr Schaffner, wie haben Sie die Jugendunruhen in Zürich vor fast 40 Jahren erlebt?
Nun, ich wurde ja von der Polizei in die Jugendbewegung eingeschleust. Da bin ich natürlich mitgegangen, wenn man demonstrierte. Damals gab es dann zwei oder manchmal auch drei Demonstrationen mit mehreren Tausend Personen in der Woche. Es war eine bewegte Zeit.
Was hat sich aus Ihrer Perspektive geändert?
Es wurde spürbar ruhiger. Die Jugendlichen heute sind nicht besser oder schlechter wie jene von damals, aber ich glaube der Drang, auf die Strasse zu gehen und Sachschaden anzurichten, ist zurückgegangen. Natürlich hat sich auch die Polizei verändert.
In welcher Hinsicht?
Heute ist die Hemmschwelle, eine unbewilligte Demonstration aufzulösen, sehr viel höher. Solange keine grösseren Beschädigungen angerichtet werden, halten sich die Polizeikorps eher zurück. Es gibt aber kantonale Unterschiede. In den 80ern war das noch ganz anders. Damals waren beide Gruppen unter Zugzwang und lieferten sich ständig ein Katz-und-Maus-Spiel.
Also ist die Deeskalations-Strategie der Polizei ein Kind der Erfahrungen aus den 80ern?
Ja, die Strassenschlachten damals werden das ihrige dazu beigetragen haben. Besonders einschneidend war aber wohl die Fichenaffäre. Hier wurde plötzlich vielen klar, dass der Sicherheitsapparat der Schweiz überdenkt werden muss. Seither hat ein Umdenken stattgefunden. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen politisch motivierten Demonstranten und der Polizei sind stark zurückgegangen. Auch viele politische Entscheidungsträger erwarten inzwischen bei Konfliktsituationen eine etwas andere Vorgehensweise.
In welcher Hinsicht könnte sich die Polizei weiter verbessern?
Ich bin kein Fan von Massenverhaftungen und Einkesselungen. Das sind zwar kurzfristige Lösungen, um eine Situation unter Kontrolle zu bringen, aber langfristig bringen diese Mittel wenig. Am besten wäre es, wenn man die Polizei an einem 1. Mai gar nicht mehr sehen würde. Dann würden die Polizistinnen und Polizisten aus dem Visier von Chaoten verschwinden und die ganze Lage wäre entspannter.
Könnte es heute noch zu Ausschreitungen wie in den 80er-Jahren kommen?
Es kann natürlich immer sein, dass sich solche Dynamiken kurzfristig entwickeln. Aber es ist schon so, dass sich die allgemeine Lage entspannt hat. Wir haben in der Schweiz zwar noch Benachteiligte, aber wir haben auch gute Mittel, diesen Personen zu helfen. Daher ist der Nährboden für solche Ausschreitungen nicht mehr ganz so stark vorhanden wie früher.
Wofür würden Sie heute noch auf die Strasse gehen?
Ich fische sehr gerne und die Natur liegt mir am Herzen. Ich störe mich daran, dass in der Schweiz viele Gewässer für die Energiegewinnung zugebaut werden. Würde der Bund entscheiden, diesen Kurs extrem zu verschärfen, würde ich wahrscheinlich auch an einer Demonstration teilnehmen.
Herr Sarasin, welche Bedeutung haben Strassenproteste heute in Europa noch?
Philipp Sarasin: Die Bedeutung ist nach wie vor sehr hoch einzuschätzen. Das erste politische Mittel, das von einer Diktatur abgeschafft wird, ist die Versammlungsfreiheit – also Strassendemonstrationen, bei denen Menschen durch ihre physische Präsenz ihren politischen Willen bekunden. Dieses Mittel wurde zwar in der jüngsten Vergangenheit in der Schweiz kaum in grossem Umfang genutzt, weil es viele andere, indirektere Formen der Willensbekundung gibt. Aber dass es uns als Bürger zur Verfügung steht, ist elementar für eine Demokratie und daher kaum zu überschätzen.
Trotzdem sind Demonstrationen mit mehr als 10'000 Teilnehmern in der Schweiz eine Seltenheit. Woran liegt das?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen sind auch junge Menschen heute wohl zufriedener mit ihrem Leben, als es die Generationen der 68er oder der 80er waren. Zum anderen gibt es heute sehr viele andere Formen von Aktivismus, die nicht nur auf der Strasse, sondern im Netz stattfinden. Oder auch zum Beispiel beim bewussten Konsum.
Bin ich also, wenn ich in der Migros aus Nachhaltigkeitsgründen ein Bio-Poulet kaufe, Aktivist?
Das nicht gerade, aber Formen des Konsums lassen sich durchaus politisieren, wie das auch immer wieder geschieht. Es ist aber schon so, dass die physische Präsenz von mehreren Tausend Personen bei einer Demonstration sehr viel mehr Gewicht entfaltet als ein viraler Protest auf Facebook.
Warum gehen die Leute dann nicht häufiger auf die Strasse?
Massendemonstrationen gehen meist auf markante soziale Brüche oder auf einschneidende Entscheidungen zurück. Blosser Stillstand – etwa bei der Reallohnentwicklung – reicht nicht aus, es braucht eine sichtbare Verschlechterung der Lebensumstände. Aktuellstes Beispiel sind die «Gelbwesten». Hier entzündete sich die sozial angespannte Situation an der Erhöhung der Abgaben auf Diesel und Benzin.
Warum sind die Spritpreise denn so wichtig?
Für viele Franzosen, besonders ausserhalb der Grossstädte, wo der Anschluss mit öffentlichem Verkehr oft schlecht ist, stellt das Auto das wichtigste Mobilitätsmittel dar. Bei den schlecht Verdienenden trifft die Erhöhung der Benzinpreise also etwas Existenzielles – ohne jetzt die Forderung der «Gilets Jaunes» darauf reduzieren zu wollen. Aber fürs Portemonnaie sind die Benzinpreise doch einschneidend.
Was bedeutet das für den Strassenprotest in der Schweiz?
Wie gesagt, einerseits ist das Wohlstandsniveau der Schweiz trotz grosser sozialer Ungleichheit sehr hoch. Und andererseits gibt es im direktdemokratischen und konsenspolitischen System der Schweiz kaum harte politische Brüche, die die Leute auf die Strasse treiben würden.
Was müsste passieren, damit Sie auf der Strasse an einem Protest teilnehmen würden?
Eine schwierige Frage. Ich denke, wenn sich in der Schweizer Politik eine über den aktuellen Populismus hinausgehende autoritäre Wende abzeichnen würde.