Was ist das höchste Gut einer Demokratie? «Sicherheit», sagte CSU-Chef Horst Seehofer an der Trauerfeier für die Opfer des Münchner Terroranschlags.
#Seehofer auf der Trauerfeier: #Sicherheit ist das höchste Gut einer Demokratie, die oberste Pflicht des Staates.
— CSU (@CSU) 31. Juli 2016
Das ist seltsam. Denn gemeinhin wird Freiheit als höchstes Gut einer Demokratie genannt. Von Rousseau, über Kant bis zu Tocqueville würden politische Philosophen dem bayrischen CSU-Sonnenkönig ihre Traktate um die Ohren hauen.
Sicherheit ist unbestritten wichtig. Der Staat sollte Leib und Leben seiner Bürger und aller Menschen, die innerhalb des Staatsgebietes leben, garantieren. Er sollte für ein geordnetes und geregeltes Zusammenleben sorgen und dafür, dass wir nicht an der Reformhaus-Kasse von hinten erstochen werden oder in einem unvorsichtigen Moment von einem taumelnden Mob an einen Laternenpfahl aufgeknüpft werden. Das ist die Aufgabe des Staates.
Was nicht – oder nur zu einem Teil – die Aufgabe des Staates ist, ist, seinen Bürgern ebendiese Sicherheit in die Köpfe zu hämmern. Wenn sich jemand unsicher fühlt, fühlt er sich unsicher. Und wenn er sich durch ein Bataillon schwerbewaffneter Polizisten sicherer fühlt, dann kann man sich mit Recht fragen, was denn Sicherheit eigentlich bedeutet.
Hier kommen die Medien ins Spiel. Wachhunde der Demokratie, Hüter der Objektivität und aufmerksame Fiebermesser der Volkskrankheit Terrorfurcht.
Nach dem Attentat von München, bei dem neun Menschen ums Leben kamen, setzte bei den Medien ein Umdenken ein. Fortan sollten keine Bilder mehr von Attentätern publiziert werden. Den Anfang machte die französische Zeitung Le Monde. In einem Editorial schrieb Chefredaktor Jérôme Fenoglio, man wolle so «eventuelle Effekte der posthumen Glorifizierung» vermeiden.
In der Schweiz zogen «Sonntags Zeitung» und «Tages-Anzeiger», zwei Titel der Tamedia-Gruppe, nach. In einem Leitartikel mit der Überschrift «Den Tätern und ihrer Propaganda keine Bühne geben» schreibt Chefredaktor Arthur Rutishauser, dass künftig nicht nur keine Fotos von Attentätern publiziert würden, sondern dass auch die Namen der Täter abgekürzt würden.
So würde verhindert, dass Amokläufer, Dschihadisten, Axtschwinger, Messerstecher, Handgranatenwerfer und Bombenleger, die in ihrem diesseitigen Leben so wenig Sinn sehen, dass sie andere auch gleich davon befreien möchten, irgendeinen Nachahmungseffekt erzeugen könnten.
Der «Tages-Anzeiger» ist mit gutem Beispiel vorangegangen. Die Absicht ist löblich. Bilder sind die stärkste Form der Übermittlung, mit Bilder lassen sich Emotionen viel leichter und schneller transportieren. Und weiss Gott, es wurde auch höchste Zeit, die Gesichter der Attentäter unkenntlich zu machen, denn:
DIE TERRORGEFAHR NIMMT ZU! Gefühlt nimmt die Terrorgefahr ja schon seit langer Zeit zu. Man fragt sich mitunter, ob wir irgendwann alle platzen werden angesichts des permanenten Terrordrucks. Dann wäre allerdings die mühselige Arbeit der Bombenbastler, die seit Kindesbeinen in ihren Hobbykellern mit Schwarzpulver hantieren («Wie man das halt so macht») umsonst. Das kann niemand wollen.
Aber halt, vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Vielleicht ...
Oh, was nun? Nimmt sie zu, nimmt sie ab? Wird sie überschätzt oder unterschätzt oder – steile These – ist die Terrorgefahr etwas so Diffuses, dass man sie womöglich gar nicht messen kann?
Gemach, der betreffende Artikel stammt vom vergangenen Herbst. Also vor Belgien, München, Ansbach, Würzburg, Nizza, etc. Da war die Welt noch so einigermassen in Ordnung, zumindest im Vergleich zu jetzt.
Studien zeigen jetzt nämlich, dass zwei von drei Schweizern bereit sind, auf ihre persönliche Freiheit zu pfeifen, wenn sie nur ein Quäntchen Sicherheit garantiert bekommen. Das haben Forscher der ETH herausgefunden.
Und die ETH befasst sich bekanntlich mit Fragen von Relevanz:
Weil man aber keiner Studie trauen soll, die man nicht selber gefälscht hat, hat die Tamedia-Tochter «20 Minuten» kurzerhand eine eigene Umfrage zum Terror ins Leben gerufen. Das Resultat ist wenig überraschend:
Jetzt sind es schon drei Viertel anstatt zwei Drittel. Allerdings muss man hier ein wenig relativieren. Drei Viertel aller Schweizer würden am liebsten auch nach Mallorca in den Urlaub fahren und mit kurzen Hemden zur Arbeit kommen. Das zeigt erstens, dass viele Studien mit seltsamen Fragestellungen hantieren und zweitens, dass man nicht alles für bare Münze nehmen sollte, was Menschen einem erzählen.
Überhaupt ist die Angst vor dem Terror etwas reichlich Widersprüchliches. Schliesslich beabsichtigt der Terror letzten Endes ja nichts anderes, als Leuten Furcht einzuflössen. Wenn die Leute nun auch noch Furcht vor der Furcht haben, dann sind die Terroristen womöglich einen Schritt zu weit gegangen. Was ist die Steigerung? Die Furcht vor der Furcht vor der Furcht? Wo soll das enden?
Rekapitulieren wir: Die Medien sollten den Attentätern kein Gesicht geben, weil das potentielle Nachahmungstäter ermutigen könnte und so die potentielle Terrorgefahr erhöht wird. Was die Medien hingegen tun sollten (nach dem Gesetz der Marktwirtschaft? Der Nachfrage der Leser? Oder – oh Gott – der vereinigten jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung?): Den Lesern immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie in einer Welt voller Gefahren leben.
Sonst läuft man womöglich Gefahr (!), im Alltag Amokläufern über den Weg zu laufen. Oder von ausser Rand und Band geratenen Verkehrsschildern angefallen zu werden.
Apropos Marktwirtschaft: Das Herz der Schweizer Volkswirtschaft pulsiert ja bekanntlich in der Zürcher Peripherie, genauer, im Einkaufszentrum Glatt. Und genau dort, wo tagtäglich Tausende friedfertige Bürger ihre Einkäufe erledigen, sich um Schuhe im Sonderangebot prügeln, auf Steinbänken Fastfood konsumieren und sich verlieben und trennen – kurz: dort, wo das Leben in seiner reinsten, umgeschminkten Form stattfindet, planen die Terroristen ihr nächstes Attentat.
Vielleicht.
Also, wahrscheinlich eher nicht.
Aber fragen schadet ja nie.
Und überhaupt: Es sind ja nur Übungen. Und, mit Verlaub, keine «weltfremden» Übungen.
Realität ist keine gegebene Grösse, Realität ist konstruierbar. Mittels Erzählungen, Bildern, menschlicher Kommunikation. Und mittels Schlagzeilen.
Das Thomas-Theorem besagt: «Wenn die Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.»
Die Terroristen kennen das Thomas-Theorem offenbar. Bei den Medienschaffenden ist das nicht so sicher.