Die Schweizer Politkultur hat sich in den vergangenen Monaten deutlich aufgeheizt. Die Corona-Pandemie führte zu spürbar mehr Beleidigungen, Drohungen und Zuspitzungen, die sich auch in den aktuellen Abstimmungskampf weitergezogen haben. Es häufen sich Berichte über angezündete und hinuntergerissene Plakate, persönliche Angriffe und Kommentare, die deutlich unter der Gürtellinie sind.
Die SRF-«Arena» nahm sich diesem Thema in der aktuellen Sendung an und stellte die Frage: Hat sich der Umgangston wirklich verschärft? Oder gab es das schon früher? Dazu wurden passender- oder irrsinnigerweise auch Politikerinnen und Politiker eingeladen, die teilweise selbst mit Provokationen auf sich aufmerksam gemacht haben. Darunter: SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann, Publizist Markus Somm und Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller.
Vor, während und nach der Sendung wurde von beinahe allen Diskussionsteilnehmenden der Vergleich zu den 1990er Jahren gezogen. Wir erinnern uns: 1992 lehnte die Schweiz in einem historischen Volksentscheid den Beitritt zum Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) ab, was als politische Zäsur in die Geschichte einging. Die politischen Kämpfe zwischen SVP und anderen Lagern veränderten die Debattenkultur merklich. So erinnerte sich Mitte-Politikerin Binder-Keller: «Ich habe noch das ‹Café fédéral› erlebt in den 80er-Jahren. In einer betulichen Art konnte man ein Argument ausbreiten. Einige waren sehr schlagfertig.»
Gemeint war die Bundeshaussendung «Café fédéral», bei der gemäss Binder-Keller ein völlig anderer Diskussionsstil herrschte: «Man konnte das Argument noch ausbreiten. Das hat sich dann völlig verändert, weil nur noch die Pole aufeinander losgegangen sind. Dies hat die Polarisierung gefördert.» Das merke man auch bei der «Arena», wo differenziertere Argumente offenbar nicht so gewünscht seien, so Binder. Nicht ganz uneigennützig forderte sie dann von Medien, dass sie sich von der Faszination der politischen Pole verabschieden und auch der «breiten Mitte des Landes» das Wort geben.
In eine ähnlich Richtung argumentierte auch SP-Politikerin Funiciello. Sie musste sich zwar selbst Kritik gefallen lassen, da sie jahrelang Parteipräsidentin der Jungsozialist:innen war, die mit provokanten und auch mal blutverschmierten Plakaten Stimmung machte. «Ich habe dieses Plakat nicht gemacht», erklärte Funiciello. Sie hätte es auch nicht gemacht, weil man auf Frauen anders losgehen würde. Sie erzählte in der Sendung auch von einer Parteigenossin, die aus Furcht, sie würde denselben Hass abbekommen wie Funiciello, auf eine Erwähnung in einer Partei-Medienmitteilung verzichtete.
Funiciellos stärkstes Argument war jedoch die Kritik an der sogenannten «False Balance». «Es gibt 999 Expertinnen, Wissenschaftlerinnen, die sagen, es gebe den Klimawandel. Es gibt einen, der sagt, das stimme nicht. Beide Seiten werden in eine Sendung eingeladen, man tut so, als wären das gleichberechtigte und legitime Positionen. So legitimiert man eine Position, die völlig minderwertig ist, die überhaupt nicht existiert und nicht faktenbasiert ist», sagte die SP-Politikerin.
Sie erhielt Rückendeckung vom ehemaligen TV-Politologen Claude Longchamp, der den Unterschied zwischen Meinung und Wissenschaft auf den Punkt brachte: «Bei wissenschaftlichen Aussagen gilt der höchstwahrscheinliche Wahrheitsgehalt. Das ist der Unterschied zur Meinung.» In der Politik ginge es hingegen um Meinungen, wo zurecht ein Wettbewerb herrsche darüber, welche besser oder schlechter sei.
Hier kam Markus Somm, aktueller Chefredaktor des traditionsreichen aber mittlerweile ideologisch ausgerichteten Satiremagazins «Nebelspalter», ins Spiel. Er versuchte, Longchamp zu widersprechen, verirrte sich dabei in historischen Details: «In der Wissenschaft haben wir sehr oft das Problem, dass jemand antritt, der ganz alleine ist. Galileo Galilei war ganz alleine und sagte, die Erde sei rund.» Richtig war: Galileo lieferte handfeste Beweise dafür, dass sich die Erde um die Sonne drehte – erste Thesen dazu wurden rund 2000 Jahre vor seiner Zeit von antiken Philosophen propagiert.
Somm, ein studierter Historiker, scheiterte zwar bei diesem Vergleich. Sein eigentlicher Punkt war jedoch die Meinungsfreiheit. Debatten, etwa über «False Balance», «Cancle Culture», sah er als Versuch (der Linken) an, diese einzuschränken. «Ich warne davor, weil es in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen ist, dass Minderheiten recht bekommen haben. Gerade die Linken haben immer davon profitiert, dass man euch angehört hat – obwohl ihr in diesem bürgerlichen Land in der Minderheit wart!», so Somm.
Ähnlich sah es Steinemann von der SVP. Sie fand, der freie und offene Diskurs funktioniere in der Schweiz. Wenn es ein Problem gäbe, dann käme dies durch die Technologie: «Früher schimpfte man am Stammtisch über die Politik und musste die Schreibmaschine hervornehmen, um einen Leserbrief zu schreiben, um die Wut loszuwerden. Mit den Online-Foren heute können alle innerhalb weniger Minuten etwas online stellen, und dann sieht es die ganze Welt.»
Sie zeigte sich aber auch selbstkritisch. So anerkannte sie, dass es auch provokante Plakate gebe, die auch mal übers Ziel hinaus schiessen. «Dann muss man auch mit kontraproduktiver Wirkung rechnen. Meine Partei ist auch kein Unschuldslamm. Auch wir haben schon provoziert und mussten mit entsprechender Wirkung rechnen.»