Missbrauchsskandal in Abtei Saint-Maurice: Sie konfrontierte ihren Peiniger im Beichtstuhl
Es ist ein Ort mit Tradition. Im Jahr 2015 feierte das Chorherrenstift Saint-Maurice im Kanton Wallis sein 1500-jähriges Bestehen. Jetzt wird das Kloster von seiner jüngsten Vergangenheit eingeholt. Am Sonntag berichtete das Westschweizer Fernsehen RTS in der Sendung «Mise au point», neun Priester hätten mutmasslich sexuelle Übergriffe begangen. Die Abtei will am Donnerstag über ihr weiteres Vorgehen kommunizieren. Sie sicherte volle Zusammenarbeit mit der Justiz und den kirchenrechtlichen Behörden zu.
Im Beitrag berichten mehrere Opfer über ihre schmerzlichen Erfahrungen. Auch Mélanie Bonnard. Sie war zwölfjährig, als ein Chorherr der Abtei ihren Bruder taufte. Schon während der Zeremonie in der Kirche habe sie sich unwohl gefühlt, als er sie an sich gedrückt habe, erinnert sich Bonnard im Gespräch mit CH Media. Der Gottesmann war bei der Familie zum Essen eingeladen, die Gäste fanden sich in der Stube ein.
Bonnard berichtet, wie der Kleriker sie in ein anderes Zimmer begleitete. Wie er mit seiner Hand ihre Brüste, dann ihren Intimbereich berührte. Es gelang ihr schliesslich, sich von ihm loszuringen. «Ich wusste, dass das, was er tat, falsch war», sagt Bonnard. Zusammen mit ihrer Mutter reichte sie Strafanzeige gegen den Chorherrn ein. Eine Psychiaterin taxiert Bonnards Aussagen als glaubhaft.
Juristische Nachforschungen blieben aus
Der Chorherr weist alle Anschuldigungen von sich. 2005, ein Jahr nach dem Vorfall, stellt die Walliser Justiz das Verfahren ein. RTS hatte Einblick in die Einstellungsverfügung. Daraus geht hervor, dass der Untersuchungsrichter dafür sorgte, dass keine Nachforschungen gemacht wurden, etwa im Umfeld von Schulen, in denen der Chorherr unterrichtete. Weitere mögliche Verdachtsfälle blieben so unter dem Deckel. «Meine Aussage stand der Aussage des Chorherrn gegenüber. Ich hatte keine Chance», sagt Bonnard.
Sie leidet in ihrer Adoleszenz stark unter dem Vorfall, den die Justiz ad acta gelegt hat. 2016 startet sie ein kühnes Unterfangen, das ihr sehr stark half, die Vergangenheit zu verarbeiten. Ihr damaliger Freund unterstützt sie dabei. Bonnard kontaktiert ihren Peiniger und bittet unter falschem Namen um eine Beichte in der Abtei. «Es war schrecklich, am Telefon diesen Termin zu vereinbaren», erinnert sie sich.
Vor dem Treffen bestellt sie im Internet einen Autoschlüssel mit versteckter Kamera. Die Begegnung im Beichtstuhl ist im RTS-Beitrag zu sehen. Bonnard gibt sich als «Sarah» aus und schildert detailliert den Übergriff, den sie vor zwölf Jahren erlebte. Wie ein Mann ihre Brüste und ihren Intimbereich berührt habe, dass sein Glied erigiert gewesen sei.
In seiner Reaktion banalisiert der Chorherr die Schilderungen. Er sei zwar kein Psychologe, doch das sei keine Vergewaltigung gewesen, nicht allzu schlimm. Dann outet sich Bonnard als Mélanie und übergibt dem Chorherrn das schwarze Röckchen, das sie beim Übergriff trug. Der Chorherr will sich nicht an sie erinnern können. Bonnard verlässt den Beichtstuhl und beschimpft den Kleriker beim Weggehen als Pädophilen. Der Chorherr nahm gegenüber RTS keine Stellung zu den Vorwürfen.
Sie hat sich mit der Kirche versöhnt
Als Bonnard den Fall 2018 erneut der Abtei Saint-Maurice meldet, verspricht der damalige Abt Jean Scarcella, ihr Dossier nach Rom weiterzuleiten. Der Abt habe sie in der Folge immer vertröstet und gesagt, es brauche Geduld, bis eine Antwort vorliege. Dann kontaktiert sie den Vatikan auf eigene Faust und erfährt, dass ihr Dossier dort nie angekommen ist. Sie wird nach Rom eingeladen und holt nach, was die Abtei versäumte. Gegenüber RTS mochte Scarcella diese Informationen nicht kommentieren. Bonnard sagt: «In Rom fühlte ich mich endlich ernst genommen.»
Bonnard absolvierte in Frankreich eine Ausbildung zur Psychologin und lebt im Kanton Wallis. Heute, mit 31 Jahren, «geht es mir gut», sagt sie. Die Walliserin erwartet ihr erstes Kind. Sie wolle es taufen, sie habe sich mit der Kirche versöhnt. Doch etwas bereut sie: dass sie den Chorherrn, der ihr Unrecht tat, nicht schon früher als 2016 mit dessen mutmasslichem Verbrechen direkt konfrontierte. (bzbasel.ch)
