Die Schweiz ist ein Land (fast) ohne Rohstoffe. Trotzdem war die Stahlproduktion lange ein wichtiger Wirtschaftszweig, geprägt durch die Familien von Moos in Luzern und von Roll in Solothurn. In der Krise der 1990er-Jahre fusionierten die Unternehmen. Heute sind sie nach Besitzerwechseln wieder getrennt. Von der einstigen Grösse ist wenig übrig.
Die letzten verbliebenen Werke von Swiss Steel in Emmenbrücke sowie Stahl Gerlafingen kämpfen ums Überleben. Swiss Steel kündigte letzte Woche den Abbau von 800 Stellen an, davon 130 in der Schweiz. Im solothurnischen Gerlafingen kam es zu mehreren Abbaurunden, dazu wurde im Mai eine der beiden Produktionsstrassen geschlossen.
Beide Unternehmen verwandeln rezyklierten Schrott mit Elektrolichtbogenöfen zu hochwertigem Spezialstahl. Es ist eine umweltfreundliche Produktionsmethode, die jedoch sehr viel Strom benötigt. Nun leiden sie unter den hohen Preisen, nicht für die Elektrizität an sich, sondern für die Netznutzungsgebühren, also den Transport des Stroms ins Werk.
Bei Stahl Gerlafingen betragen sie 2024 rund 17 Millionen Franken. Das ist hart für das angeschlagene Unternehmen. Der italienische Eigentümer Antonio Beltrame bezeichnete sie in der «NZZ am Sonntag» als «Katastrophe». Frankreich und Italien würden den Strom verbilligen: «Es ist, als würden wir in Gerlafingen mit gefesselten Händen kämpfen.»
Beim Bundesrat stossen seine Klagen auf taube Ohren. Wirtschaftsminister Guy Parmelin wehrt sich vehement gegen Forderungen, der Stahlindustrie unter die Arme zu greifen. «Bei den Produkten von Stahl Gerlafingen handelt es sich um ersetzbare Massengüter, die weltweit gehandelt werden», sagte er im Interview mit watson.
Gegenüber «CH Media» verwies der Waadtländer SVP-Bundesrat auf «eine weltweite Überkapazität bei der Stahlproduktion, auch in Europa». Dies liege auch daran, dass andere Länder ihre Stahlunternehmen massiv unterstützen, erklärte Parmelin: «Genau deshalb macht die Schweiz keine Industriepolitik für einzelne Unternehmen oder Branchen.»
Industriepolitik gilt hierzulande als No-Go. Dies gehöre «zum Schweizer Erfolg», mahnte der Chefökonom der NZZ in einem Kommentar. Statt einer aktiven Industriepolitik sorge die Schweiz «für gute Rahmenbedingungen für alle». Doch nun bröckelt das Tabu. Selbst bürgerliche Politiker fordern Massnahmen zur Rettung der heimischen Stahlproduktion.
Treibende Kraft ist der Solothurner SVP-Nationalrat Christian Imark, der sich mit Verve für Stahl Gerlafingen einsetzt. Dabei spannt er in einer «unheiligen» Stahl-Allianz mit dem Waadtländer SP-Nationalrat Roger Nordmann zusammen. In der «NZZ am Sonntag» bezeichnete Imark die Zusammenarbeit als «unglaublich konstruktiv».
Weitaus härter ins Gericht ging er kürzlich mit Parteifreund Guy Parmelin. Dieser verbreite «Fake News», sagte er der «Sonntagzeitung». Imark warnte Parmelin gar vor einem «miserablen Resultat» bei der Wahl zum Bundespräsidenten (im Dezember soll er zum Vize gewählt werden). Die Stahlkrise bringt die politischen Fronten durcheinander.
Das «eiserne» Duo Imark/Nordmann strebt an, den Stahlwerken in den nächsten Jahren einen Teil der Netzkosten gestaffelt zu erlassen. Denn anders als der Wirtschaftsminister halten sie die Produktion in der Schweiz sehr wohl für systemrelevant. «Stahl ist heute eine superstrategische Ressource», sagte Roger Nordmann der «NZZ am Sonntag».
Im bürgerlich dominierten Ständerat gelang ihnen am letzten Freitag ein symbolträchtiger Erfolg, genauer in der mächtigen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Gegen den Widerstand der SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti nahm sie drei Motionen an, die Massnahmen zur Rettung der Schweizer Stahlproduktion fordern.
In der Motion von Christian Imark wird sogar verlangt, «gegebenenfalls mit Notrecht» einzugreifen. Es wäre ein weiterer, besonders deftiger Tabubruch, denn dieses Instrument wäre eigentlich nur für echte Notlagen gedacht. Die Vorstösse sollen in der übernächste Woche beginnenden Wintersession der eidgenössischen Räte behandelt werden.
Die Forderung nach einem Erlass der Netzgebühren wurde am Dienstag von der Umwelt- und Energiekommission (Urek) des Nationalrats unterstützt, wenn auch relativ knapp mit 13 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung. Ein Problem gibt es: Swiss Steel besitzt Standorte in mehreren Ländern und produziert auch in Emmenbrücke primär für den Export, ist also kaum systemrelevant.
Die Debatte fokussiert sich deshalb auf das Werk in Gerlafingen, wo rund eine halbe Million Tonnen Baustahl hergestellt wird. Diese Menge zu importieren, mache ökologisch keinen Sinn, meinte Besitzer Antonio Beltrame im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Ohnehin gebe es «gar nicht genügend Kapazität, so viel Stahl in die Schweiz zu transportieren».
Gleiches gelte für die Ausfuhr des bislang in der Schweiz rezyklierten Schrotts, erklärten Branchenvertreter in der «Luzerner Zeitung». Ihr «Zauberwort» lautet Kreislaufwirtschaft. «Am Ende müssen wir uns fragen, was es uns wert ist, den Recyclingkreislauf in der Schweiz zu schliessen», meinte Andreas Steffes, Geschäftsführer des Verbands Metal Suisse.
Gegen solche Argumente haben die Warner vor einer Industriepolitik einen schweren Stand. Im Parlament dürften Imark und Nordmann gute Chancen haben. Sie erhalten nicht nur vom Solothurner Mitte-Ständerat Pirmin Bischof Unterstützung, sondern – zum Entsetzen der NZZ – auch aus der FDP, vom Luzerner Ständerat Damian Müller.
Zusätzlich absichern wollen sich die «Stahlretter», indem sie das Walliser Aluminiumwerk Novelis berücksichtigen. Es wurde im Sommer durch das Rhone-Hochwasser beschädigt, seine Existenz steht auf der Kippe. Damit wäre auch die Romandie eingebunden.
Da vergisst unser Weinbauer im Bundeshaus aber grosszügig die stark subventionierte Landwirtschaft. Gilt für ihn wohl nicht als Industrie.