Wenige Arbeitsplätze bewegen die Schweizer Politik so wie die Stahlwerke im solothurnischen Gerlafingen. Von links bis rechts setzen sich Nationalrätinnen und Ständeräte für den Erhalt dieses Betriebs ein – gegen die Wirtschaftslage und gegen den Bundesrat. Die einzigartige Gemengelage spornt das Parlament zu Entscheiden an, die ihresgleichen suchen. Verantwortlich dafür ist ein ungleiches Trio: SVP-Nationalrat Christian Imark und SP-Nationalrat Roger Nordmann, flankiert von Mitte-Ständerat Pirmin Bischof, der wie Imark im Kanton Solothurn wohnt.
Als Bundesrat Albert Rösti am Donnerstagmittag die Sitzung der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats verlässt, hat diese die Sitzung noch nicht beendet. Und doch weiss er bereits, wie die Verhältnisse in diesem heiklen Dossier liegen: Die Mehrheit will die Stahlwerke Gerlafingen retten, ohne Wenn und Aber.
Die Werke sind wegen steigender Energiepreise, aber auch aufgrund internationaler Strafzölle in Schieflage geraten. Der Bundesrat hat sich bislang auf den Standpunkt gestellt, nicht weiter in die Geschicke der Stahlindustrie einzugreifen: Sie sei nicht systemrelevant, erklärte etwa Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Gross ist die Angst, das Beispiel für staatliche Industriepolitik könnte Schule machen. Das kommt nicht von ungefähr: Am Freitagmorgen gab mit Swiss Steel ein zweites Stahlunternehmen bekannt, 130 Leute in Emmenbrücke zu entlassen.
Die Ständeräte diskutierten lange, emotional und hart, sagen solche, die dabei waren. Sowohl Rösti als auch Parmelin waren in der Sitzung und wirkten darauf hin, dass das Parlament vorderhand nichts unternehme.
Dessen unbenommen stimmen am Ende sieben Ständeräte Ja zu einer Motion, die dem Bundesrat alle Kompetenzen einräumen will. «Der Bundesrat wird beauftragt, gemeinsam mit der Unternehmensleitung des Stahlwerks Gerlafingen und der Regierung des Kantons Solothurn Sofortmassnahmen zu ergreifen, um das Stahlwerk zu retten, gegebenenfalls mit Notrecht.»
So lautet der Text der Motion des Solothurner SVP-Nationalrats Christian Imark. Im September hat diese der Nationalrat verabschiedet. Dass nun die Kommission des Ständerats Ja sagt, ist ein starkes Indiz dafür, dass auch der Zweitrat darauf eintritt. Das Vorgehen wäre beispiellos.
Notrecht ist eigentlich dazu gedacht, dass der Bundesrat die Handlungsfähigkeit der Schweiz auch dann wahren kann, wenn für ordentliche parlamentarische Prozesse keine Zeit bleibt. Um «schwere Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit» abzuwenden. Mit der Motion Imark dreht das Parlament den Spiess um. Der Grund dafür sind nicht nur die bedrohten Arbeitsplätze, sondern auch die drohende Abhängigkeit vom Ausland bei der Beschaffung von Stahl.
Das Ganze ist aber nur der Plan B – oder je nach Sichtweise eine Drohkulisse. Bereits am nächsten Dienstag nämlich will die Umweltkommission des Nationalrats einen zweiten, konkreten Rettungsschirm für die Gerlafinger Stahlwerke aufspannen.
Dann verhandelt die Kommission ein eigentlich ziemlich unspektakuläres Geschäft: die Winter-Stromreserven. Nachdem der Bundesrat aufgrund der Ukraine-Krise – ironischerweise per Notrecht – eiligst Stromreserven beschaffen musste, will er diese auf ein solides gesetzliches Fundament stellen. Die Umweltkommission nutzt dieses Geschäft nun als Trittbrett für eine Lex Gerlafingen, wie Christian Imark gegenüber dieser Zeitung bestätigt.
«Darin enthalten sind mehrere Massnahmen, die den Stahlwerken kurz- und langfristig das Überleben sichern sollen», sagt Imark. «Wir haben einen pfannenfertigen Lösungsansatz.» Spoiler: Die Vorschläge sind happig. Unter anderem sollen die Werke über die nächsten vier Jahre vom Zahlen der Netzgebühren entlastet werden. Wie die «NZZ am Sonntag» berichtet hat, bezahlte Stahl Gerlafingen allein 2024 Netzgebühren in der Höhe von mehr als 17 Millionen Franken. Weiter sollen Bund und Kantone dazu verpflichtet werden, bei öffentlichen Bau-Ausschreibungen zwingend grünen Stahl einzusetzen – eine Stahl-Art, wie sie in Gerlafingen hergestellt wird. Und via eine vorgezogene Recyclinggebühr sollen die Stoffkreisläufe langfristig im Inland gesichert werden.
Die Massnahme der Netzentlastung will Imark mit Unterstützung anderer Parteien kurzfristig an das Gesetz zu den Stromreserven anhängen. Alles ist im Fluss: Wer den Antrag einreichen wird, ist noch offen, aber das Kommissionssekretariat wurde schon mit der Vorbereitung beauftragt. Während der Dezembersession soll diese Lex Gerlafingen dann zwischenzeitlich abgetrennt werden, um es per dringlichem Verfahren durch beide Räte zu peitschen. Nur um es am Ende wieder in das Stromversorgungsgesetz zu packen – und noch vor Weihnachten in der Schlussabstimmung zu verabschieden.
Dieses Vorgehen hat das Parlament bereits einmal angewendet: 2022, als es unter dem Eindruck einer drohenden Strommangellage binnen einer Session den sogenannten Alpinsolarexpress verabschiedete. «Parlamentarisch ist das Vorgehen möglich, wenn alle an einem Strick ziehen», sagt Imark. Ob das so ist, ist noch offen. Sollten sich den Rettern der Schweizer Stahlwerke aber ungeplante Stolpersteine in den Weg legen, bleibt ihnen ja immer noch das Notrecht der Regierung. (aargauerzeitung.ch)
Auch ohne den blassesten Schimmer, wie wichtig ein Solothurner Stahlwerk ist, ist der BV-Tatbestand unter Garantie nie erfüllt.