Sie scheinen in unterschiedlichen Welten zu leben, so weit driften die Forderungen auseinander. Auf der einen Seite wächst der Chor der Akteure, der nach Lockerungen ruft: Der Gewerbeverband preschte diese Woche vor, und Gewerkschaftspräsident Pierre-Yves Maillard sagte im «Blick»: «Mit den heutigen Zahlen sollten erste Lockerungsschritte möglich sein.»
Auf der anderen Seite stehen jene, die vor Lockerungen warnen oder gar Verschärfungen fordern. Sie verweisen darauf, dass die Infektionen mit der neuen Virusvariante B.1.1.7 ansteigen. Bisher verlaufe diese Entwicklung ähnlich, wie es die wissenschaftliche Taskforce in einem vereinfachten Modell gezeigt habe, erklärte Taskforce-Chef Martin Ackermann diese Woche (siehe untenstehende Grafik). Und: «Nimmt man dieses Szenario ernst, wird klar, dass wir unsere Bemühungen eher noch verstärken als reduzieren müssen.»
Unsere Aussage, dass die Fallzahlen tiefer als in der Modellierung sind, trifft deshalb nicht zu. Die Entwicklung der Fallzahlen stimmt über den gesamten Zeitraum bis zum 6. Februar gut überein mit der Modellierung (siehe Bild).
— Swiss National COVID-19 Science Task Force (@SwissScience_TF) February 10, 2021
Wir bedauern den Fehler. pic.twitter.com/KQxwxqQx7R
Der Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler hat Ackermanns Auftritt mitverfolgt und das «Horrormodell», wie er es nennt, gesehen. An der Forderung nach Lockerungen hält er dennoch fest. Er sagt:
Aus seiner Sicht berücksichtigt die Taskforce den Schaden für die Wirtschaft und die psychischen Auswirkungen auf die Bevölkerung zu wenig. Unklar sei auch, mit welcher Wahrscheinlichkeit das von der Taskforce skizzierte Szenario eintrete.
«Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass die Infektionszahlen sinken müssen», sagt Bigler. «Es braucht aber eine Balance zwischen den gesundheitspolitischen Massnahmen und den Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.» Der Fokus müsse deshalb vor allem darauf liegen, die besonders gefährdeten Personen zu schützen – unter anderem durch Impfung, Testen und Contact-Tracing.
Etwas zurückhaltender äussert sich derzeit der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. «Wenn es die epidemiologische Lage zulässt, muss der Detailhandel Ende Februar wieder öffnen können und die Homeofficepflicht wieder abgeschafft werden», sagt Chefökonom Rudolf Minsch. Economiesuisse erwarte vom Bundesrat, dass er Mitte Februar einen «Öffnungsfahrplan» vorstelle. «Wirtschaft und Gesellschaft brauchen eine Perspektive», sagt Minsch.
Während aus der Wirtschaft konkrete Forderungen kommen, hält sich die Taskforce damit zurück. Martin Ackermann merkte allerdings an, bei der Mobilität bestehe «noch Potenzial». Das Mobilitätsmonitoring, das der Taskforce als Grundlage dient, zeigt: Die Mobilität ist zwar gesunken, liegt aber noch deutlich höher als im ersten Lockdown. Die mittlere Tagesdistanz liegt seit Anfang Jahr bei etwa 30 Kilometern. Zum Vergleich: Im Frühling letzten Jahres sank der Wert zeitweise unter 20 Kilometer.
Heiner Mikosch ist Ökonom an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich und mitverantwortlich für das Mobilitätsmonitoring. Er sagt, die Homeofficepflicht, die seit dem 18. Januar gilt, zeige durchaus Wirkung: «Bei den Pendlern sehen wir substanzielle Rückgänge.» Diese seien zwar nicht so stark wie im Frühling 2020, aber doch klar erkennbar. Anders sieht es im Freizeitverkehr aus: Dieser ist in etwa stabil geblieben. Mikosch erläutert: «In jenen Bereichen, in denen die Menschen selbst entscheiden können, sind sie mobiler als im Frühling 2020.»
Dass die Mobilität höher liegt als im Frühling letzten Jahres, hat laut Mikosch verschiedene Gründe. Einer liegt auf der Hand: Die Massnahmen sind weniger strikt als im ersten Lockdown – damals waren die Schulen geschlossen, ebenso etwa Coiffeursalons, Gartenzentren und Skigebiete. Und der Bundesrat appellierte: «Bleiben Sie zuhause.» Doch die Schärfe der Massnahmen ist nur das eine, die Umsetzung das andere. Das Wort Coronamüdigkeit macht seit längerem die Runde.
Laut Mikosch spielen auch andere psychologische Effekte eine Rolle. Die KOF-Forscher kamen kürzlich zum Schluss, dass sich Mobilität und Infektionszahlen vermutlich gegenseitig beeinflussen. Das heisst: Sinkt die Mobilität, bremst dies die Verbreitung des Virus. Umgekehrt reagiert die Bevölkerung aber auch auf die Fallzahlen: Sind diese hoch, schränken wir uns stärker ein. Mikosch sagt:
Hinzu kämen rationale Überlegungen: «Wir können die Gefahren subjektiv besser einschätzen als im Frühling 2020, und wir wissen besser, wie wir uns schützen können. Der Umgang mit der Krise ist ein anderer als damals.»
Allerdings sagte Taskforce-Chef Ackermann auch, mit der Reduktion der Mobilität allein werde sich die Lage nicht verbessern. «Wichtig ist, dass die ganze Bevölkerung an einem Strick zieht.» Angesichts der gegensätzlichen Forderungen dürfte das eine Herausforderung sein.
Der Bundesrat will kommende Woche diskutieren, wie es ab Ende Februar weitergehen soll. Die Hoffnungen hat Gesundheitsminister Alain Berset letzte Woche schon gedämpft: Grossflächige Lockerungen seien nicht realistisch.
Ich kann Leuten die nur dogmatisch ihre Position verfechten nicht mehr hören, dass wir Probleme haben ist bekannt, abei braucht es aber Kompromissfähigkeit und Empathie. Unterstützen wir heute, sind die Kosten geringer, als wenn wir zuwarten und die Konsequenzen finanzieren müssen!
Die Behörden liefern die Hilfszahlungen. Dort ist der Hund primär begraben.