Zwei Spiele, zwei torlose Unentschieden, zwei völlig unterschiedliche Gefühle. War das 0:0 gegen Europameister Italien ein heroisch erkämpfter Punkt, so war das 0:0 in Nordirland ein Rückschlag in der Qualifikation für die WM 2022 in Katar.
In beiden Partien gab es einen Elfmeter – und beide Male gewann der Goalie das Duell mit dem Schützen. Gegen Italien war Yann Sommer mit seiner Parade gegen Jorginho der gefeierte Held des Abends in Basel.
In Belfast bot sich Haris Seferovic nach rund einer halben Stunde die Chance, die Schweiz nach einem Geschenk des Schiedsrichters in Führung zu bringen. In einer überaus zähen Partie mit fast keinen offensiven Szenen war es die beste Gelegenheit für einen Treffer. Doch Seferovic scheiterte am nordirischen Keeper Bailey Peacock-Farrell.
Der Penalty war schwach getreten: Seferovics Versuch war weder wuchtig, noch wirkte er besonders platziert.
Und doch hat Haris Seferovic nicht alles falsch gemacht. Ja, man muss sogar festhalten: Der Stürmer von Benfica Lissabon hat sich an die neusten Erkenntnisse der Wissenschaft gehalten, die in Studien regelmässig hofft, den Schlüssel zum perfekten Penalty zu finden. Denn diese jüngsten Erkenntnisse von Christian Rieck, einem Professor für Finanz- und Wirtschaftstheorie an der Frankfurt University of Applied Sciences, zeigen: Schützen sollten öfter auf die Mitte des Tores zielen.
Rieck wertete 402 Bundesliga-Elfmeter aus. Und kam mit seiner repräsentativen Studie zum wohl für viele überraschenden Schluss, dass ein Schuss in die Mitte die grösste Erfolgsquote hat. Zwar habe dort auch der Goalie sehr gute Chancen, den Ball zu halten – schliesslich steht er zu Beginn des Duells schon dort. «Dennoch sollten Schützen öfters den Mut aufbringen, in die Mitte zu zielen», sagt Rieck, «denn meistens springt der Torhüter und lässt die Mitte offen.»
Weshalb Fussballer diesen Ratschlag nicht öfter beherzigen – in der Studie nur in 13 Prozent aller Fälle – weiss der deutsche Professor: «Würde der Ball ausgerechnet in der Mitte gehalten, wäre das sehr peinlich.» So wie bei Jorginho, so wie bei Seferovic.
Womit wir zur zweiten Komponente bei einem Penalty kommen, nämlich der Rolle des Torhüters. Die kennen ihre Pappenheimer: Yann Sommer wusste haargenau, wie Jorginho üblicherweise schiesst (und meist verwandelt). Der Italiener macht vor dem Schuss einen kleinen Hüpfer und schaut, wohin sich der Goalie bewegt, um dann in die andere Ecke zu schiessen.
«Wenn du nur eine kleine Bewegung machst, wechselt er die Ecke», sagte Sommer. «Deshalb bin ich so lange wie möglich stehen geblieben und habe ihm keine Anhaltspunkte gegeben. Zum Glück hat das gut funktioniert.»
Jorginho kam mit seiner Variante lange durch. Doch mittlerweile kennen ihn die Torhüter und seine Erfolgsquote sinkt. In den Saisons 2018/19 und 2019/20 verwandelte er alle elf Penaltys. In der vergangenen Saison betrug seine Bilanz nur noch 9:4, hinzu kam ein gehaltener Penalty im Penaltyschiessen des EM-Finals.
Betrachtet man den Penalty von Haris Seferovic, so fällt auf, dass er bis zur Schussabgabe auf den Torhüter schaut. Bailey Peacock-Farrell vom englischen Drittligisten Sheffield Wednesday bleibt allerdings so cool wie im Spiel zuvor Sommer. Erst im allerletzten Moment, bevor Seferovic den Ball trifft, bewegt er sich. Zu spät für den Schützen, um noch darauf reagieren zu können. Und so wird der unscharf geschobene Versuch zur Beute des Keepers.
Denn – und jetzt kommt's: Auch der Goalie hat die grösste Chance, den Ball zu halten, wenn er in der Mitte bleibt. Das berechneten Forscher der Deutschen Sporthochschule Köln vor der WM 2018.
Aber wenn sowohl Schütze als auch Torhüter die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit haben, wenn sie in die Mitte schiessen bzw. dort stehen bleiben – können die Resultate der Forschung dann überhaupt in der Realität angewendet werden? Oder sollte aus Sicht des Schützen deshalb nicht vielmehr gelten: Ich denke, dass der Goalie denkt, dass ich denke, also schiesse ich anders, als ich denke?
Beim Roulette hat die Kugel kein Gedächtnis. Auch wenn sie zehn Mal auf Rot landete, wird die Wahrscheinlichkeit nicht grösser, dass sie im elften Anlauf auf Schwarz landet. Und wenn ein Penaltyschütze zehn Mal nach links schiesst, ist die Wahrscheinlichkeit nicht grösser, dass er nun nach rechts zielt. Aber, und so dreht es dann im Kopf des Torhüters, vielleicht macht er es ja dieses Mal wirklich anders, weil er weiss, dass ich weiss, was er vorzieht?
Nachvollziehbar, dass vor lauter Gedanken in dieser Drucksituation manch ein Schütze verwirrt ist und bloss ein Schüsschen statt eines Schusses zustande bringt. «Ich denke nicht vor dem Tor. Das mache ich nie», verriet Weltmeister Lukas Podolski einst. Vielleicht nicht die schlechteste Taktik.
Erfolg verspricht ein Schuss in die obere Torhälfte. Dort gelten Penaltys als praktisch unhaltbar. Allerdings steigt das Risiko, die Latte zu treffen oder über das Tor zu schiessen – im untersuchten Zeitraum (alle Penaltyschiessen bei WM und EM zwischen 1982 und 2012) wurde jeder vierte hoch abgegebene Versuch zum Fehlschuss.
Das Verzögern des Schusses und das Abwarten auf eine Reaktion des Torhüters, wie es Jorginho gegen Sommer praktizierte, verspricht den grössten Erfolg. So schiesst auch Weltfussballer Robert Lewandowski, dessen Elfmeter-Bilanz in der Bundesliga lautet: 35 verwandelt, 4 verschossen.
Der polnische Goalgetter von Bayern München hat seine Technik über die Jahre perfektioniert. Früher hielt er sich an eine andere Taktik, die laut dem Sportwissenschaftler Prof. Dr. Armin Kibele von der Universität Kassel die zweitbeste Variante ist. Demnach soll sich der Schütze voll und ganz auf sich konzentrieren, eine Ecke anvisieren und den Goalie auszublenden versuchen. Mit der Kraft positiver Gedanken soll der Ball rein: «Wichtig ist dabei, sich nicht auf den eigenen Bewegungsablauf zu konzentrieren, sondern den Ball bereits vor dem Schuss gedanklich im Netz sehen.»
Lewandowski kombiniert die beiden Techniken mittlerweile. Er verzögert, verschafft sich somit vier Zehntelsekunden, um den Goalie zu beobachten, und fokussiert danach den Ball. So, dass er ihn so platziert, wie er möglich ins Tor schiessen kann.
Einleuchtend ist, worauf Star-Physiker Stephen Hawking einst kam, als er Penaltys analysierte: «Ein harter Schuss ist der Schlüssel zum Erfolg, aber er muss gleichzeitig platziert sein, sonst bringt es nichts.» Stürmer treffen gemäss seinen Untersuchungen eher als Mittelfeldspieler oder Verteidiger.
Die Schweizer Nationalspieler haben nun mindestens einen Monat Zeit, um sich auf einen nächsten Penalty in einem Länderspiel vorzubereiten. Am 9. Oktober trifft die Schweiz in Genf erneut auf Nordirland. Die Frage ist, wer dann Anlauf nehmen würde. Seferovics Fehlschuss war der vierte in Folge (abgesehen von Penaltyschiessen), nachdem zuvor Ricardo Rodriguez drei Mal vom Elfmeterpunkt scheiterte. Falls er dann auf dem Platz steht, wäre der gestern verletzte Mario Gavranovic vermutlich die beste Wahl: Er traf an der EM sowohl im Penaltyschiessen gegen Frankreich wie auch gegen Spanien.
Die Souveränen - die gehen ins Tor
Die, die man schlechter nicht schiessen kann - die gehen nicht ins Tor