Fussball und Eishockey kennen die Zuspitzung eines Spiels zum Drama: das Elfmeter- bzw. das Penaltyschiessen. Also das Duell Mann gegen Mann. Die Schweizer sind in beiden Sportarten im gleichen Jahr bei Titelturnieren im Viertelfinal so gescheitert: im Eishockey gegen Deutschland, im Fussball gegen Spanien.
Eine Lotterie? Die Lotterie ist ein Glücksspiel, bei dem über Gewinn und Verlust bzw. Sieg oder Niederlage der Zufall entscheidet. Der Zufall kann Partien entscheiden: zum Beispiel ein falscher Schiedsrichter-Pfiff. Ein abgelenkter Ball bzw. Puck. Es gibt unzählige vom Spieler unbeeinflussbare Unwägbarkeiten und Zufälligkeiten, die zu einem Tor führen oder ein Tor verhindern können.
Aber die Penalty-Entscheidung gehört definitiv nicht zu diesen Zufälligkeiten. Bei der Penalty-Entscheidung ist die Chancengleichheit maximal. Mann gegen Mann. Niemand grätscht drein. Ein Schiedsrichter-Fehlentscheid ist theoretisch möglich (wenn er eine Wiederholung anordnet), kommt aber praktisch nie vor. Glück und Pech? Nein. Pures Talent und reine Nervenkraft entscheiden. Beim Schützen und beim Torhüter.
Es ist nicht möglich, besser zu spielen und doch zu verlieren (auch so eine Floskel). Es gibt nur Sieg oder Niederlage. Versagen oder Gelingen. Nichts dazwischen. Und was den Trainer betrifft: Je besser er seine Spieler kennt, je mehr er über sie weiss, je besser er sich in sie hineinfühlen kann – desto eher nominiert er die richtigen Schützen. Auch da: keine Lotterie.
Im Buch «Elfmeter – die Kunst des perfekten Strafstosses» von Ben Lyttleton finden wir eine wunderbare Beschreibung der Penalty-Entscheidung.
Diese Beschreibung hat der britische Autor bewusst entlehnt. Sie schildert kein Penaltyschiessen. Sondern das grandiose Finale des Films «Zwei glorreiche Halunken». Ähnliche Szenen gibt es auch in «Für eine Handvoll Dollar» und «Spiel mir das Lied vom Tod». Alle drei sind sogenannte Spaghetti-Western des italienischen Regisseurs Sergio Leone, deren Höhepunkt jeweils ein episches Duell bildet. In der englischen Sprache hat dieses Film-Drama sogar den gleichen Namen wie das Elfmeterschiessen im Fussball oder die Penalty-Entscheidung im Hockey: «Shootout». Die Elfmeter-Entscheidung als Spaghetti-Western.
Nein, da ist kein Zufall im Spiel. Es ist ein Drama. Es ist so, wie es Adam Smyth, ein Doktor der Anglistik einmal gesagt hat: «Das Elfmeterschiessen ist wie der Epilog eines Shakespeare-Stücks. Es führt das Hauptstück (das Spiel samt Verlängerung) thematisch fort und wird sinnstiftend für das, was zuvor geschehen ist. Gleichzeitig existiert es als etwas Eigenständiges ausserhalb des Stückes.» Es ist eine Beigabe zum eigentlichen Drama. Was bleibt, ist die Wahrheit des Elfmeterschiessens. Manchmal ist es die falsche Wahrheit. Aber es ist eine Wahrheit.
Alles Drama. Aber sicher kein Zufall.
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— Italy ⭐️⭐️⭐️⭐️ (@azzurri) July 6, 2021
Diese Vorstellung der «falschen Wahrheit» ist nach Dr. Adam Smyth faszinierend. Oftmals bleibt das Penaltyschiessen in Erinnerung. Nicht das Spiel. Es ist dieser eine Moment, der das ganze Spiel repräsentiert. So wie es auch im Drama passiert. Der Moment, an dem die ganze Handlung hängt. Diese falsche Wahrheit ist in der Regel bitter für den Schützen. An die Erfolgreichen erinnern wir uns kaum noch.
Was im Kopf bleibt, sind die Bilder der Versager. Sogar noch aus dem letzten Jahrhundert: Uli Hoeness, der im EM-Final 1976 gegen die Tschechoslowakei den Ball in den Nachthimmel von Belgrad schiesst. Roberto Baggio, der mit einem Schuss in die Wolken den WM-Final von 1994 gegen Brasilien verliert. Nachdem er zuvor mit fünf Toren der überragende Spieler der Italiener und zweitbester Torschütze in diesem Turnier war.
Und schliesslich finden wir den Elfmeter in der Literatur: «Die Angst des Tormanns beim Elfmeter» von Peter Handke. Die Schlussfolgerung, die der tragische Romanheld Josef Bloch für sich selbst trifft: Nur dem Tormann, der sich völlig ruhig verhält, schiesst der Schütze den Ball in die Hände.
Die Penaltyentscheidung beschäftigt Philosophen und inspiriert Schriftsteller. Aber nicht nur das. Sie treibt auch die Wissenschaft um.
Professor Dr. Daniel Memmert und Dr. Benjamin Noël, die beide an der Deutschen Sporthochschule in Köln lehren, schreiben 2017 eine Abhandlung über den Elfmeter («Elfmeter – die Psychologie des Strafstosses»). Darin werden sage und schreiben 32 Fragen sportpsychologisch und bewegungswissenschaftlich untersucht.
Auf einige Fragen gibt es eine klare Antwort. Beispielsweise: Gewinnt das Team, welches zuerst schiesst? Antwort: Nein. Hat ein Team, das den letzten Treffer im Spiel erzielt, grössere Chancen? Ja. Spielt der Anlaufwinkel des Schützen eine Rolle? Nein.
Es gibt andere weltbewegende Fragen, auf die keine klare Antwort gefunden werden konnte: Sollte ein Tor im Elfmeterschiessen deutlich sichtbar gefeiert werden? Sollte der Schütze sich Zeit für den Schuss nehmen? Sollte der Goalie die Aufmerksamkeit des Schützen auf sich lenken? Sollte der Torhüter von sich aus nach links springen, wenn der Schütze mit dem rechten Fuss schiesst? Sollte der Torhüter Freude und Stolz nach einer geglückten Parade zeigen?
In den letzten 30 Jahren wurde in mehr als 130 wissenschaftlichen Studien versucht, Faktoren zu finden, die den Erfolg beim Elfmeterschiessen beeinflussen.
Die Penaltyentscheidung ist also Drama, Spaghetti-Western und Wissenschaft. Aber ganz sicher keine Lotterie.