Missglückt? Zu Beginn dieses Jahrhunderts, als es keinen einzigen Schweizer mehr im Töff-Zirkus gab, hätten bei solchen Resultaten die motorsportlichen Kirchenglocken geläutet und die Chronisten hätten Lobeshymnen komponiert. Sieg für Tom Lüthi in Le Mans! Podestplätze für Tom Lüthi in Katar (3.) und Dominique Aegerter in Mugello (3.). Beide Fahrer im Gesamtklassement der zweitwichtigsten Töff-WM unter den Top Ten (5. und 9.)
Aber angesichts des investierten Geldes, des Talentes und der technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen sind die Resultate dieser Saison als Misserfolg zu taxieren. Zuletzt waren die Leistungen beim GP von Tschechien sogar kläglich und inzwischen ist klar: Dominique Aegerter wird der grosse Verlierer dieser Saison sein.
Vor der Sommerpause hatte Teamchef Fred Corminboeuf verkündet, nun sei Zeit für Selbstkritik auf allen Ebenen. Jawoll! Nun, die Zeit der Selbstkritik ist noch nicht vorbei. Im Team des freundlichen Selbstdarstellers und Maulhelden ist inzwischen die Leistungskultur verloren gegangen. Schlimmer: Es geht alles drunter und drüber. Um es positiv zu formulieren: Dieser chaotische Charme macht das «Dream-Team» verletzlich.
In Brünn, beim bisher schlimmsten GP der Saison auf allen Ebenen, sorgten mehr als hundert geladenen Gäste für Jahrmarktsstimmung. Hurra, Töff-Chilbi in Brünn! So läuft es bei den Europa-GP immer wieder. Die Fahrer bekommen sogar Anrufe von Kollegen, die nach Zutrittskarten zum Fahrerlager fragen.
Das mag alles am Donnerstag noch angehen. Aber am Freitag, am Samstag und am Sonntag bis nach dem Rennen brauchen die Fahrer eine Oase der Ruhe und Konzentration. Die Kontakte der Fahrer mit den Gästen sind zeitlich zu limitieren. Beim Hockey- und Fussball werden Sponsoren ja auch nicht vor dem Spiel und in den Pausen zum Umtrunk und Autogramme-Sammeln in die Kabine geladen.
Das Schweizer «Töff-Dream-Team» ist mit einem Budget von mehr als drei Millionen Franken eines der reichsten im Fahrerlager. Es fehlt an nichts. Aber es ist inzwischen zu einer grandiosen Vermarktungs-, Vergnügungs- und Ausredenmaschine verkommen. Der überforderte Fred Corminboeuf duldet es. In einem Sport, in dem jeder Konzentrationsfehler Gesundheit und Leben kosten kann und die Sensibilität der Piloten immer und immer wieder unterschätzt wird.
Ein besorgniserregendes Zeichen für den Verlust der Leistungskultur ist auch das grandiose Theater, das in Brünn um die anstehenden Vertragsverlängerungen inszeniert worden ist. Es kann nicht sein, dass ein Manager zu einem GP anreist, um mit seinem Fahrer Vertragsgespräche zu führen, wie es in Brünn bei Dominique Aegerters Manager Dr. Robert Siegrist der Fall war. Solche Verhandlungen sind nicht auf dem Rennplatz zu führen. Schliesslich führt ein Hockeyprofi seine Vertragsgespräche auch nicht vor einem Spiel in der Kabine.
Tom Lüthi wird sein Potenzial in den letzten sieben Rennen noch mehrmals in Spitzenplätze ummünzen. Wenn, wie jedes Jahr, bei den drei Übersee-Rennen in Japan, Australien und Malaysia fern der Heimat der Chilbi-Betrieb ruht und rund ums Team wieder Ruhe einkehrt. Ein oder zwei gute Resultate reichen, um Sponsoren und Medien auch für die nächste Saison bei Laune zu halten.
Aber für Dominique Aegerter wird es kritisch. Für ein paar kurze Wochen tanzte er im Sommer 2014 nach dem GP-Sieg auf dem Sachsenring als Nummer 1 im Land. Der «Lüthi-Komplex» war überwunden. Er hatte Tom Lüthi erfolgreich herausgefordert.
Aber nun zeigt sich: Die neue Nähe zu Tom Lüthi kann er nicht verkraften. Er erklärt brav, wie gut er doch mit dem Tom auskomme, wie super das alles sei und wie man sogar immer wieder gemeinsam etwas unternehme. Er hat sich von seinem schlauen neuen Teamkollegen dressieren lassen wie ein Tanzbär. Der «Lüthi-Komplex» ist wieder da, stärker denn je und er merkt es nicht. Oder will es nicht wahr haben.
Wenn es ihm nicht gelingt, sich von seinem neuen Teamkollegen wieder zu emanzipieren und zu distanzieren, und ihn als erbitterten Rivalen und nicht als netten Kumpel zu betrachten, dann wird er nie mehr Rennen gewinnen. Er kann nur als Tom Lüthis Rivale erfolgreich sein. Aber nicht als Tom Lüthis Kumpel.
Für die Saison 2016 braucht es Ordnung im Team. Auf dem Rennplatz eine klare Trennung zwischen Chilbi-Betrieb und Sportabteilung. Und wenn es die Situation erfordert, Wechsel beim technischen Personal und beim Material. Eigentlich braucht das Team einen Sportchef, der sich vor Ort nur um die Fahrer kümmert und ihre Interessen bei Teamchef Fred Corminboeuf durchsetzt. Denn am Ende des Tages ist eine erfolgreiche Vermarktung vom sportlichen Erfolg abhängig.
Der Schweizer Motorradrennsport hat mit diesem «Dream Team» erstmals die finanziellen, infrastrukturellen und sportlichen Voraussetzungen, um die zweitwichtigste Töff-WM zu gewinnen. Es darf nicht sein, dass diese grandiosen Voraussetzungen wegen eines überforderten Teamchefs und organisatorischen Mängeln vertan werden.