Der verwirrende Eindruck einer perfekten WM. Was ist nun Minsk wirklich? Filmkulisse? Sozialistisches Disneyland? Oder vielleicht doch eine der erstaunlichsten Städte Europas?
Wir vertrauen besser nicht immer blind auf das, was uns Fernsehen, Radio und Presse berichten. Das schwante mir erstmals zu Beginn der 1980er Jahre. In einer Bar im nirgendwo von Nevada wurde ich gefragt, wie schlimm denn der Bürgerkrieg in der Schweiz sei. Bürgerkrieg? Doch, doch, beharrte mein Gesprächspartner. Er habe im Fernsehen brennende Strassen in Zürich gesehen. Aha. Ich versuchte ihm zu erklären, dass das wohl nur eine missglückte Demo gewesen sei. Nein, nein, er habe im Fernsehen gesehen: Bürgerkrieg in Zürich.
Und nun Weissrussland und Minsk. Eine Reise in die letzte Diktatur Europas. Ins Reich der Finsternis des bösen Alexander Lukaschenko. Ins letzte Land Europas, das noch die Todesstrafe verhängt. Aus den Medien erfahren wir eigentlich nur Düsteres.
Und was jetzt? Minsk organisiert eine perfekte WM. Volle Stadien. Tolle Stimmung. Keine Ausschreitungen. Die Fanzonen sind so gross wie noch bei keiner WM. Es rockt und rollt. Die Menschen sind freundlich und friedlich. Kein Abzocken. Die Hotels sauber. Der Service gut. Das Essen vorzüglich. Das Internet funktioniert einwandfrei und das Telefon auch. Die Strassen breit und der Verkehr fliesst ruhig dahin. Wunderbare Grünzonen durchziehen die Stadt. Alles ist sauber gewischt, ja gefegt. Keine Abfälle liegen herum und jeder Hund wird an der Leine geführt.
Gewiss, die Überwachung ist mit ziemlicher Sicherheit total. Wie in Orwells Vision von 1984. Die Kontrollen beim Eingang aufs Stadiongelände sind strenger als am Flughafen. Jeder Computer muss eingeschaltet werden. Offen wird mit Videokameras der Eingang gefilmt.
Also, was ist jetzt? Ist diese saubere, grüne, schöne, so gut funktionierende Stadt nur für die zwei Wochen während der WM so hergerichtet worden? Ist alles nur eine Propaganda-Show? Ein Missbrauch des Sportes durch die Politik wie die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin? Alles nur herausgeputzt für diese WM? Oder stimmt es am Ende doch, dass das Leben in diesem Lande vielleicht doch nicht so schrecklich ist? Dass es stimmt, was die Einheimischen sagen? Dass die Korruption gar nicht so schlimm sei, dass das Gesundheitswesen funktioniere?
Ich weiss es nicht. Es ist ganz einfach nicht herauszufinden. Weissrussland und Minsk sind nach wie vor weisse Flecken auf der touristischen Weltkarte und uns irgendwie fremder als China und Tibet. Schon wegen des Visumzwanges. Städteflüge nach Minsk boomen nicht. Und das ist erstaunlich und schade. Denn Minsk liegt im Herzen Europas. Wenn wir eine gerade Linie von der französischen Atlantikküste bis zum Ural ziehen, dann sind wir ziemlich genau bei halber Distanz in Minsk. Und wen interessiert schon die leidvolle Geschichte dieses Landes, das im 2. Weltkrieg einen Drittel seiner Bevölkerung verloren hat?
In Erinnerung bleiben diese wunderbaren Tage in Minsk, die immer auch ein wenig sind wie Besuch auf einem anderen Planeten, in einer Stadt Utopia, in einer unwirklichen Welt. Soll ich eine Reportage über tolle Tage in Minsk, im Reich des Finsterlings Alexander Lukaschenko schreiben? Vielleicht besser nicht. Ich würde mir wahrscheinlich die Empörung der politisch Korrekten zuziehen. Schreiben was ist, funktioniert nicht.
Minsk hat mich fasziniert. Ich werde wohl in ein paar Monaten noch einmal in diese Stadt fliegen und übers Land fahren. Um der Wahrheit näher zu kommen.