Die Gefahr der Befangenheit, die Beeinflussung durch das Wissen um die jüngsten Irrungen und Wirrungen sind für einen Chronisten gerade in Zeiten der Krise gross. Versetzen wir uns also bei einer Betrachtung des «neuen» HC Lugano in die Situation eines gänzlich neutralen und unvoreingenommenen Betrachters. Ein hockeyaffiner Kanadier, Besitzer eines Saisonabis in Montréal, hat geschäftlich in Zürich zu tun. Per Zufall erfährt er am Samstagmorgen beim Frühstück im Baur au Lac, dass am Abend die örtlichen ZSC Lions gegen den HC Lugano antreten. Natürlich gelingt es dem vornehmen Haus, seinem Gast aus Übersee ein Ticket im ausverkauften Zürcher Hockey-Tempel zu besorgen.
Unser Freund aus Montréal kennt unser Hockey schon ein wenig. Die ZSC Lions sind ihm durchaus ein Begriff. Eines der grossen Hockey-Unternehmen Europas! Ein paar Namen kennt er. Sven Andrighetto und Yannick Weber haben ja einst für die Canadiens gespielt. Und hat nicht hier Torontos Auston Matthews unter Marc Crawford einst den letzten Schliff für die NHL bekommen? Der HC Lugano als eines der grossen Hockeyunternehmen der lateinischen Welt ist unserem Gast, dem Kapitalismus kundig, sowieso ein Begriff. Vielleicht ist er früher sogar mit einer Fluggesellschaft, die im Besitze der Familie von Präsidentin Vicky Mantegazza war, nach Europa geflogen. Und steht bei denen mit Uwe Krupp nicht ein ganz grosser Name aus der NHL? Na also!
Es wird ein unterhaltsamer Hockey-Abend für unseren Gast aus Montréal. Der Zürcher Hockey-Tempel ist zwar nicht so gross wie die Hockey-Kathedrale «Centre Bell» daheim in Montréal. Aber mit allem Komfort und dem gesamten technischen Dekor eigentlich eine NHL-Arena im Bonsai-Format. Das Spiel kurzweilig. Rasantes, ja elegantes für die National League typisches Tempohockey nach dem Motto «Laufen und laufen lassen». Die ZSC Lions gewinnen 4:1. Ein bisschen zu hoch. Lugano dominiert mit 31:27 Torschüssen sogar leicht. Gewiss, kein Drama und wenig Aufregung. Aber durchaus gefälliges «Januar-Hockey» zwischen zwei freundlichen Teams. Sozusagen alles im «grünen Bereich».
Dieser Eindruck unseres Gastes ist stimmig und führt uns zum Krisenszenario Lugano, dem ligaweit interessantesten der letzten Jahre. Was hat sich unter dem neuen Trainer Uwe Krupp verändert? Die Antwort ist einigermassen erstaunlich: nichts. Lugano hat so verloren wie meistens unter Uwe Krupps Vorgänger Luca Gianinazzi: nach gefälligem, weichem Lauf- und Tempohockey wegen ein paar taktischen Undiszipliniertheiten und Konzentrationsfehlern sowie wegen offensichtlicher Zweikampfscheu. Dabei ist doch der neue Coach Uwe Krupp in der NHL einst als «King Kong» Krupp verehrt worden!
Den Künstlernamen hat sich der kräftige Titan durch seine Spielweise in mehr als 800 NHL-Partien hart erarbeitet. Aber im Wesen und Wirken neben dem Eis ist er ein freundlicher, kluger Gentleman. Wie er nach dem Spiel durch den Kabinengang schreitet, gelassen, ja fast ein wenig scheu, mahnt er eher an einen durchaus charismatischen, ins reife Alter gekommenen Schlagersänger aus den 1970er Jahren als an einen grimmigen Bandengeneral.
Freundlich und souverän, wie es seine Art ist, gibt er nach seinem zweiten Spiel (6:3 gegen Davos, 1:4 in Zürich) gerne Auskunft. Er habe eine intakte Mannschaft ohne Krisensymptome übernommen. Die ZSC Lions seien ein Spitzenteam. Gegen Davos sei beim 5:3 nicht alles gut gewesen und nun bei der Niederlage in Zürich nicht alles schlecht und er habe viel Positives gesehen. Gerne hätte man einen oder zwei Punkte aus Zürich mit nach Lugano genommen. Aber mit dem Auftritt sei er zufrieden. Am Sonntag gibt er seinen Jungs erst einmal frei. Er hat also noch nicht getobt? «Nein, nein, es gab noch keinen Grund zum Toben.» Es sei ein Abwägen und bisher gebe es mehr Positives als Negatives.
Natürlich wird er auch auf seinen neuen Arbeitsort angesprochen und die Umstände seiner Anstellung. «Es war ein Entscheid, den ich in weniger als 24 Stunden gefällt habe. Der HC Lugano war mir natürlich ein Begriff. Als einer der grossen Klubs in Europa. Aber die Stadt Lugano habe ich noch nicht gekannt. Wir waren nur einmal mit Köln für ein Testspiel da und sind mit dem Bus an- und gleich wieder abgereist.» Er sei in Lugano nun in einem coolen Appartement untergebracht. «Ich habe freie Sicht auf den See.» Nein, nein, die Palmen seien nicht so wichtig. Die kenne er aus Florida.
Seine Kinder gehen in Köln zur Schule, er ist solo in Lugano. «Das passt für mich. So kann ich mich richtig in meine neue Aufgabe vertiefen.» Und als er von einem Chronisten darauf aufmerksam gemacht wird, dass einst der Dichterfürst Hermann Hesse unweit von Lugano gelebt habe, huscht ganz kurz so etwas wie Melancholie über sein Gesicht und er sagt: «Ja, der Hermann Hesse.» Die Chronisten aus dem Tessin (Chronistin war keine da) befragen Uwe Krupp in englischer Sprache. Die aus der Deutschschweiz sind im Vorteil. Sie können sich mit Luganos neuem Trainer in seiner Muttersprache unterhalten.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Zuvor hatte schon Leitwolf und Captain Calvin Thürkauf mit professioneller Freundlichkeit Auskunft über das Spiel und die Umstände des Trainerwechsels gegeben. Dabei betont er auch auf mehrfaches kritisches Nachfragen, dass die Spieler mit der Absetzung von Luca Gianinazzi rein gar nichts zu tun haben. Fast wie einst Pilatus bei seiner weltgeschichtlichen Verurteilung Jesu wäscht er sich die Hände in Unschuld und betont, auch er als Captain sei in der Sache nicht befragt worden. «Das haben die oben im Management entschieden.» Keinerlei Einflussnahme der Spieler also. Punkt.
Ganz offensichtlich weht in Lugano auch in der Krise eine sanfte Brise. Der neue Trainer geht behutsam vor. Fast ein wenig im Sinne von Hermann Hesse, der ja in seinem Kult-Roman «Unterm Rad» eindringlich vor überzogener Pädagogik warnt. Uwe Krupp sagt, er habe sich mit Harold Kreis (Luganos letzter Meistertrainer von 2006, heute Deutscher Nationalcoach) über Lugano unterhalten und der Harold habe ihm erzählt, was da alles los sei. Luganos umgänglicher neuer Chef scheint nach zwei Partien im Amt fast ein wenig erleichtert und froh, dass es unter den Palmen ja gar nicht so wild zu und hergeht.
Aber Lugano steckt nach wie vor auf Rang 13 fest. Zwei Verlustpunkte hinter Ambri. Die grösste Krise seit dem Aufstieg von 1982. Rang 13 bedeutet ein schmähliches Playout gegen Ajoie. Uwe Krupp erlebt gerade seine «Flittertage» mit dem HC Lugano. Eine Bezeichnung bezogen auf die «Flitterwochen» im richtigen Leben. Er hat noch drei «Flittertage» vor sich: Die Heimspiele gegen Servette (23. Januar) und Kloten (25. Januar) sowie der Gastauftritt in Rapperswil-Jona (26. Januar). Dann erst beginnt am 28. Januar das wahre Leben mit dem Derby in Ambri oben.
Um es rein literarisch zu formulieren: Zur Einstimmung sollte Luganos neuer Trainer eher Ernst Jünger («In Stahlgewittern») statt Hermann Hesse lesen. Ambris Sportdirektor Paolo Duca denkt inzwischen, wie Gewährsleute berichten, sogar darüber nach, den Ausfall seines Vorkämpfers und Strafenmachers Daniele Grassi (bisher 61 Minuten) durch … Ronalds Kenins zu kompensieren. Der auch in der NHL gestählte Powerstürmer war bekanntlich dem SCB als Transfer nicht gewichtig genug und ist weiterhin für einen Gastauftritt, aber kaum für eine sanfte Brise zu haben.