Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Eine gute Viertelstunde vor Schluss vermeldet der Stadionsprecher «ausverkauft». Aber nur 6750 Zuschauerinnen und Zuschauer sind da. Statt 17'031. Diese Zahlen stehen für die durch die Umstände erzwungene neue SCB-Bescheidenheit.
In seinem Selbstverständnis war der SC Bern das Bayern München unseres Hockeys. Eine Titelfabrik (zuletzt 2010, 2013, 2016, 2017 und 2019 Meister) und nach wie vor Titelverteidiger. Eigentlich müsste eher ein Kamel durch ein Nadelöhr kriechen (wie es im Buch der Bücher steht), als dass der SCB bescheiden werden kann.
Aber der SCB ist bescheiden, ja demütig geworden. Dass Marc Lüthi ein grosser Kommunikator und begabter Verkäufer ist, wissen wir seit gut 20 Jahren. Aber dass er es fertigbringt, seinem Publikum Demut und Bescheidenheit zu verkaufen, ist wahrlich ein Meisterstück. Marc Lüthi, das Verkaufs-Genie.
Vor dem ersten Puckeinwurf betritt er das Eis. Er wird mit warmem Applaus empfangen. In einer Hand hat er nur einen Spickzettel. In der anderen das drahtlose Mikrophon. Darauf hat er fünf Stichworte notiert: «Maske», «Abstand», «Vertrauen», «Dank» und «Regeln». Er spricht mit einer ruhigen Ernsthaftigkeit. So wie sonst Staatsmänner am Radio zur Nation reden. Er erinnert daran, dass die Behörden in ganz Europa nur in der Schweiz Eishockey vor so viel Publikum ermöglichen und sagt, nun sollte dieses Vertrauen zurückgegeben werden. Er macht auf die Regeln aufmerksam, bedauert, dass nicht vier Ausländer zur Verfügung stehen, dankt allen für die Unterstützung und das Erscheinen im Stadion und schliesst seine kurze Ansprache mit einem Satz, der in die Geschichte der Krisen-Kommunikation eingehen wird: «Wir haben auf dem Papier nicht die beste Mannschaft. Aber wir wollen jeden Gegner ärgern.»
Wohlverstanden: Das sagt der Manager des Titelverteidigers. Warmer Applaus regnet auf ihn hernieder. Das Publikum «kauft» dem grossen Zampano des grössten sportlichen, wirtschaftlichen und politischen Titanen der letzten zehn Jahre dieses Bekenntnis zur Demut ab. Das ist so, wie wenn Uli Hoeness in der Allianz Arena zu München verkünden würde, nun sei man das neue St.Pauli und dafür gefeiert wird.
Aber Lüthi ist glaubwürdig. Er hat seit dem Ausbruch der Virus-Krise seinen Sparkurs durchgezogen. Er predigt Wasser und trinkt auch nur Wasser. Zum ersten Mal in seiner Ära hat der SCB zum Saisonbeginn nicht alle Ausländerpositionen besetzt. Als Trainer hat er nicht einen charismatischen, grossen, berühmten Bandengeneral verpflichtet. Sondern den billigen Don Nachbaur (auf ihn kommen wir noch zu sprechen). Auf teure Transfers hat der SCB verzichtet und zwei Neuerwerbungen (Miro Zryd, Kyen Sopa) schmoren auf der Tribüne. Langnaus Sportchef sollte sich zügig, aber ohne Hast um einen vorzeitigen Transfer von Zryd bemühen.
Diese neue Bescheidenheit passt zum äusseren Rahmen. Nur Sitzplätze. Die Stimmung in der grössten Arena Europas mahnt an eine WM-Partie zwischen Kanada und Ungarn oder an ein Gruppenspiel der Champions Hockey League: freundliche Neugier und fachkundiger Applaus in den richtigen Momenten auf offener Szene. Keine Trommeln. Keine «aufpeitschende» Gesänge. Keine gellenden Pfeifkonzerte.
Die Intensität der Atmosphäre, die einen sonst in diesem Tempel packt, die Stimmung, die jeden SCB-Spieler ein paar Zentimeter grösser und die Gegner entsprechend kleiner macht, gibt es nicht mehr. Das Kratzen der Schlittschuhe ist gut zu hören. Auch die Kommandorufe, mit denen Tomi Karhunen seine Vorderleute dirigiert. Erst tief im zweiten Drittel gibt es zum ersten Mal überhaupt Pfiffe für die Schiedsrichter und bis zum Schluss wird es keine mehr geben.
Die Umsetzung der Corona-Vorschriften ist hochprofessionell und bereitet keinerlei Schwierigkeiten. Die Dankbarkeit, Eishockey im Stadion verfolgen zu dürfen, ist viel grösser als die Lust zur Rebellion. Der Zutritt zum Stadion geht zügig. Keine Kolonnen. Keine «Rudelbildungen». Auf dem Vorplatz die Tafel, das von nun an eine Maske zu tragen ist.
Beim kurzen Anstehen hält jeder den Abstand ein. Mit einer Art Pistole wird das Fieber gemessen (der Chronist ist mit 35,8 Grad leicht unterkühlt, wie es auch sonst seine Art ist). Dann die Kontrolle des Zutritt-Codes auf dem Smartphone – und der Besucher ist durch. Wer keines hat, bekommt am Infopoint einen ausgedruckten Code.
Weil sich unten im «Bärengraben» (bei den Kabinen) nur Spieler, Trainer und Schiedsrichter aufhalten dürfen, fehlt der «Einpeitscher» und nach dem Spiel können die Vertreter der Sponsoren den Preis für den besten Spieler nicht übergeben.
Auch im Stadion wird beim Anstehen für Bier und Wurst der Abstand eingehalten. Die Ordner schreiten nur freundlich mahnend ein, wenn sich eine Gruppe von mehreren Personen in der Pause zu einem Schwatz versammelt. Das geht nicht. Und damit fehlt ein wichtiges Element der Hockeykultur: das Gemeinschaftserlebnis. Die Gespräche. Der verbale Austausch des Matcherlebnis. Und dadurch verliert das Spiel eine Spur Ernsthaftigkeit. Jedem ist angesichts der besonderen Umstände bewusst, dass es wichtigeres gibt als Eishockey. Dass es eben bloss ein Spiel ist.
Und das Eishockey? Ein eleganter Sololauf von Gaëtan Haas zum 1:0 ist schon die Entscheidung. Tomi Karhunen bewahrt seine Mannschaft vor Gegentreffern. Der SCB spielt rau, ein paar Checks sorgen für Szenenapplaus. Vincent Praplan muss nach einem Bandencheck gegen Isacco Dotti unter die Dusche (36. Min.). Aber es ist keine gezielte Aggression. Es ist ein unglücklicher Zusammenprall und – wie so oft bei uns – verschlimmert durch die unglückliche Körperhaltung des Opfers. Ambris Verteidiger konnte nicht mehr weiterspielen.
Der Meister ist weit von der einschüchternden Intensität seiner grossen Tage entfernt. Ein fleissiges Ambri ist optisch leicht überlegen (37:27 Torschüsse). Aber ohne Julius Nättinen (der letztjährige finnische Torschützenkönig ist noch verletzt) im Abschluss naiv wie eine Juniorenmannschaft.
Trainer Don Nachbaur hat seinen ersten Sieg eingefahren. Das Publikum hätte auch eine Niederlage verziehen. Marc Lüthis Botschaft der Bescheidenheit hat zu einem Solidaritäts-Effekt geführt. Nach dem Motto: In diesen schwierigen Zeiten stehen wir zusammen. In schwierigen Zeiten ist es wichtiger, erst einmal heil durchzukommen, als Meister zu werden. Im Geiste ist der SCB jetzt Langnau so nahe wie noch nie in der Geschichte.
Es wäre daher geradezu töricht, bei dieser Ausgangslage viel Geld für einen teuren Trainer oder weitere hochkarätige Ausländer auszugeben. Lüthi sagt: «Wir werden weitere Ausländer erst engagieren, wenn wir es uns leisten können.» Das Publikum wird Niederlagen und auch den vorläufigen Verzicht auf weitere Ausländer akzeptieren und Polemik und Kritik am Lüthis Sparkurs nicht goutieren.
Und wer weiss: Vielleicht profitiert Nachbaur ja von einem «Ogi-Effekt». Noch selten ist ein Trainer so skeptisch beurteilt worden. Der 61-jährige Kanadier ist sogar schon als «Operetten-Coach» abqualifiziert worden. Es könne unmöglich gut gehen. Er kenne die Besonderheiten unseres Eishockeys nicht. Der Mann habe noch nie ein Profiteam auf diesem Niveau geführt.
Schon einmal ist ein Mann bei seinem Amtsantritt in Bern auf ähnliche Weise kritisch beäugt worden. Ja, die vornehme «NZZ» hatte ihm gar die Befähigung zum Amt abgesprochen. Es könne unmöglich gut gehen. Der Mann habe nicht einmal die Sekundarschule besucht und habe noch nie ein so hohes Amt innegehabt. Aber der so kritisch beurteilte sollte einer der beliebtesten Bundesräte unserer Geschichte werden: Adolf Ogi.