Tim Wolf hat letzte Saison mit Ajoie den Final der Swiss League gegen Kloten gewonnen und den Aufstieg gefeiert. Nun hat er ein Jahr später mit Kloten im Final gegen Olten triumphiert und erneut die Promotion gefeiert. Er musste eine halbe Ewigkeit auf diese Krönungen seiner Karriere warten.
Alles beginnt ganz normal. Ja sogar banal. Er besucht sozusagen die Elite-Universität: Bei den ZSC Lions bekommt er die bestmögliche Ausbildung. Dafür ist er im Rückblick noch heute dankbar. Folgerichtig krönt er seine Junioren-Karriere mit einer U20-WM (2012). Was bei anderen Klubs das Eintrittsticket zur Kabine der ersten Mannschaft, das ist in Zürich ein Abschiedsdiplom, verbunden mit den besten Wünschen für die Zukunft: Die Organisation der ZSC Lions strebt stets nach dem Titel und beschäftigt deshalb grosse Torhüter. Ganz oben ist kein Platz mehr für die Aus- und Weiterbildung.
So kommt es, dass so viele ehemalige ZSC-Junioren in der Fremde den Kasten hüten: Leonardo Genoni in Zug, Reto Berra in Fribourg, Niklas Schlegel in Lugano, Luca Boltshauser neu in Langnau, Melvin Nyffeler in Rapperswil-Jona und eben Tim Wolf diese Saison in Pruntrut und Kloten.
So weit, so normal. Aber der Weg nach Ajoie ist speziell. Tim Wolf bekommt seine Chance in der höchsten Liga im Herbst 2014 bei den Lakers. Im Rückblick zeigt sich: Einen schwierigeren Startplatz für seine Karriere hätte er nicht finden können. Er erlebt in dieser turbulenten Saison 2014/15 mehr als andere während einer ganzen Karriere: Er wird Nationaltorhüter, kommt beim Spengler Cup gleich bei zwei verschiedenen Teams aufs Matchblatt, steigt ab und steht vor dem Karriereende.
Ab November 2014 wird die Saison turbulent. Während des Deutschland Cups wird Tim Wolf als Ersatzgoalie nachnominiert. «Am Abend, so gegen neun Uhr, kam der Anruf aus München. Ich müsse sofort kommen. Am nächsten Morgen holte ich so gegen vier Uhr in der Kabine in Rappi meine Ausrüstung und kam noch rechtzeitig zum Spiel in München an.» Diese Loyalität dankte ihm Nationaltrainer Glen Hanlon im Februar 2015 mit einem Aufgebot zum Slovakia-Cup in Banska Bystrica und einem Länderspiel.
Um diese Begegnung – bis heute sein einziges Länderspiel – ranken sich Legenden. Die Schweizer, mit einer B-Auswahl angereist, verlieren gegen die Slowaken 0:5. Sie sind chancenlos. Zwei Chronisten sind mitgereist. Sie finden heraus, dass es von dieser Partie keine TV-Bilder gibt. Sozusagen ein anonymes Länderspiel und in der Schweiz kann niemand sehen und wissen, wie Tim Wolf gespielt hat. So beschliessen die zwei Hockey-Poeten, dass man Tim Wolfs Leistung unabhängig davon, wie er spiele, über alle Massen rühmen werde. Das wolle man ihm gönnen. Er habe es bei den Lakers ja wahrlich nicht leicht. Und so lesen wir über sein einziges Länderspiel vom 6. Februar 2015 am nächsten Tag in einer grossen Tageszeitung:
Niemand kann ahnen, dass er sich acht Jahre später ab Herbst 2021 bei Ajoie in einer durchaus ähnlichen Situation bei einem arg unterlegenden Team Woche für Woche glänzend bewähren wird.
Wie hat Tim Wolf damals in der Slowakei tatsächlich gespielt? Wir wissen es nicht mehr. Im Nebel der Vergangenheit erkennen wir nur noch die offizielle Fangquote: 85,71 Prozent. Noch Fragen? Er hört diese Geschichte der wohlwollenden Berichterstattung zum ersten Mal, als wir uns diese Saison im Stadionrestaurant zu Pruntrut treffen und muss dann doch lachen. Und weil wir gerade so beim Erzählen sind, darf eine andere Episode aus der damaligen Zeit nicht fehlen.
Beim Spengler Cup 2014 steht Tim Wolf erst einmal vier Partien als Ersatz beim HCD am Bandentörchen. Seine Mission scheint nach der vierten Partie – einem Nachmitttagspiel – beendet und er verabschiedet sich bei Arno Del Curto. Er sitzt bereits bei Bier und Pizza. Da ruft Chris McSorley an. Christophe Bays habe eine Grippe erwischt, er brauche sofort einen Ersatz. «Ich sagte ihm, ich hätte bereits Bier und Pizza gehabt, ich könne unmöglich kommen. Doch er versicherte mir, dass ich nur am Bandentörchen stehen müsse. Ich eilte ins Stadion in die Servette-Kabine. Es reichte nicht einmal mehr zum Aufwärmtraining.»
So erlebt er aus nächster Nähe mit, wie Servette den Halbfinal gegen Kanada mit 6:5 gewinnt. Er ist der erste Torhüter, der beim Traditionsturnier bei zwei Teams aufs Matchblatt kommt. Ein Grund für das so kurzfristige Aufgebot: Chris McSorley hätte gerne als Werbegag Florence Schelling für diese eine Partie als Ersatztorhüterin gehabt. Aber das liess sich nicht bewerkstelligen.
Nationalmannschaft, Spengler Cup – aber dann Abstieg und beinahe Karriereende. Die Lakers verlieren im Frühjahr 2015 die Liga-Qualifikation gegen Langnau in vier Partien. Die drei Ersten spielt Tim Wolf, bei der Vierten muss er Ivars Punnenovs Platz machen. Die Goalies waren noch die Besten. «Mein Vertrag mit den Lakers galt noch für zwei Jahre und war auch nach dem Abstieg gültig. Ich fragte, ob es möglich wäre, eine Ausstiegsklausel für den Fall eines Angebotes aus der NLA zu bekommen.» Die Verhandlungen führen zu keinem Resultat und so steht Tim Wolf im Sommer 2015 ohne Vertrag da.
Keine einfache Situation für einen Torhüter, der soeben abgestiegen ist. Er bekommt dann doch eine Chance in Ambri. Aber er kann sich nicht durchsetzen und kommt während der ganzen Saison 2015/16 nur zu fünf Einsätzen. In der höchsten Liga gewogen und als zu leicht befunden. Zurück auf Feld eins. Aus einer Karriere auf der grossen nationalen Bühne wird wohl nichts mehr.
Aber nun hat er Glück. Trainer Alex Reinhard – ein ehemaliger Goalie – holt ihn nach La Chaux-de-Fonds. Der lange Weg zurück nach ganz oben beginnt. Im Neuenburger Jura findet er sein Selbstvertrauen wieder. Zum ersten Mal in seiner Karriere kann Tim Wolf während einer längeren Zeit – es werden drei Saisons – in der gleichen Mannschaft spielen und wird immer besser. Im Frühjahr 2019 erreicht er mit La Chaux-de-Fonds den Final und an der Niederlage gegen Langenthal ist er unschuldig (Fangquote 93,22 Prozent). Aber die Manager der grossen Klubs haben ihn längst vergessen. Und so bleibt er in der zweithöchsten Liga. In Ajoie braucht Trainer Gary Sheehan einen Ersatz für Dominic Nyffeler (zu Kloten). Tim Wolf zügelt nach Pruntrut. Endlich ist er am Ort seiner Bestimmung angelangt. Cupsieg 2020, Aufstieg 2021.
Tim Wolf ist also doch noch ein Stammtorhüter in der höchsten Liga geworden. Er ist inzwischen sogar einer der besten und seine Leistungen werden eigentlich zu wenig gewürdigt. Er hatte diese Saison von allen mit Abstand am meisten Arbeit: In 44 Partien prasselten 1579 Pucks auf ihn ein, 1416 davon hat er abgewehrt. Liga-Rekord. Am nächsten kommt ihm Reto Berra mit 1261 Schüssen und 1170 Paraden in ebenfalls 44 Spielen. Im Schnitt muss er 35 Schüsse pro Spiel zu parieren versuchen. Und oft sind es an einem Wochenende fast 50. Am 29. Oktober sind es beispielsweise gegen die ZSC Lions 59 Schüsse und 24 Stunden später in Ambri 37. Ajoie besiegt die ZSC Lions 4:3 und holt in Ambri einen Punkt (2:3 n.V).
Er sieht in dieser Belastung kein Problem. Wahrscheinlich ist er der zäheste Athlet und grösste Stoiker unter den Goalies. Ein Stoiker ist ein Mensch, den einfach nichts mehr erschüttern kann.
Der grosse griechische Philosoph Plutarch, der noch nichts von Eishockey und Ajoie wusste, hat das Wesen des Stoikers so erklärt: «Er verliert auch im Kerker seine Freiheit nicht; man stürze ihn vom Felsen herab, er leidet keine Gewalt; man spanne ihn auf die Folter, er leidet keine Qual; man hacke ihm die Glieder ab, er bleibt unverletzt; fällt er auch beim Ringen, ist er doch unbesiegt; man schliesse ihn mit Mauern ein, ihm gilt keine Belagerung; wird er von den Feinden verkauft, so ist er doch kein Gefangener.» Er hätte anfügen können: «Und als Torhüter bei Ajoie ist er auch nach einer Niederlage nie ein Verlierer und immer ein Held.»
Tim Wolf entspricht vom Stil und der Postur her einem modernen Torhüter. Er ist 186 Zentimeter gross und nur 80 Kilo schwer und dürfte er von den Goalie-Titanen der vielleicht zähste, belastbarste sein. Zumal er mit stoischer Gelassenheit spielt und keine Energie mit Spektakelparaden vergeudet.
Und dann kommt doch noch der Lohn für die Mühsal dieser Saison. Kloten holt ihn leihweise für die Playoffs in die Swiss League. Und er ist im Final gegen ein starkes Olten der «Übervater» des Aufstieges mit einer sensationellen Fangquote von 97,24 Prozent. Cupsieg 2020 und Aufstieg 2021 mit Ajoie und nun auch Aufstieg mit Kloten. So viel hatte in den letzten zwei Jahren wahrscheinlich weltweit kein anderer Goalie zu feiern. Er ist unser Torhüter des Jahres.
Mit zwei verschiedenen Teams nacheinander in die höchste Liga aufsteigen: Das hat bisher im Playoff-Zeitalter (seit 1986) nur Flavio Streit übertroffen: 2001 Aufstieg mit Lausanne, 2002 Aufstieg mit Servette, 2003 Aufstieg mit Basel. Doppelte Aufstiege gab es natürlich auch schon im letzten Jahrhundert: Rolf Simmen hexte Zug 1987 in die NLA und Herti Zug 1998 von der 2. in die 1. Liga.
Tim Wolfs Vertrag in Ajoie läuft bis 2023. So mancher Sportchef ärgert sich inzwischen, dass er Tim Wolf damals übersehen, vergessen, geringgeschätzt oder unterschätzt hat – und denkt mit Wehmut, wie besser er dran wäre mit Tim Wolf.