Es gibt eine Begebenheit, die uns zeigt, warum jeder im Playoff ein Held werden kann. Damien Brunner fällt im vierten Viertelfinalspiel in Bern am 21. März nach einem Zusammenprall mit SCB-Verteidigerhaudegen Jesse Zgraggen mit einer Muskelverletzung aus. Der SCB gewinnt 3:2 und gleicht den Viertelfinal aus (2:2).
Damien Brunner verletzt, Mike Künzle gesperrt: Das bedeutet, dass von Biels eidgenössischer Paradelinie (Künzle, Cunti, Brunner) in der nächsten Partie nur noch Luca Cunti zur Verfügung steht. Grund zum Klagen. «Nein», widerspricht Antti Törmänen nach dem Spiel. «Damit muss man in den Playoffs rechnen. Nun bekommen andere eine Chance.»
Ein Chronist gibt zu bedenken, es sei aber schon ein Unterschied, ob Mike Künzle (in der Qualifikation 26 Punkte), Damien Brunner (32 Punkte) oder bloss einer wie beispielsweise Yanick Stampfli (6 Punkte) neben Luca Cunti stürme. Oder? Auch das lässt Biels Trainer nicht gelten. Es sagt, eine grössere Motivation, als in den Playoffs über sich hinauszuwachsen, gebe es nicht. Ein Trainer, der jedem seiner Spieler vertraut. Jeder kann ein Held werden.
Und nun hat dieser Yanick Stampfli (23), der noch als Beispiel eines bedeutungslosen Spielers herhalten musste, Biel den verrücktesten Verlängerungssieg seit dem Wiederaufstieg von 2008 beschert.
Servette dominiert die Verlängerung (11:1 Torschüsse). Biel wankt. Antti Törmänen muss seinen Spielern mit einem Time-Out eine Atempause verschaffen. Servettes Sieg scheint nur eine Frage der Zeit. Da knöpft Mike Künzle dem grossen Sami Vatanen den Puck ab und der heranbrausende Yanick Stampfli trifft im Fallen zum 2:1. Das erste NL-Playofftor seiner Karriere. Sein dritter Treffer in dieser Saison. Er war Junior bei Biel, wechselte 2015 nach Zug, ist dort im Farmteam ausgebildet worden und ist seit 2020 wieder in Biel.
Der Siegestreffer fällt beim zweiten Abschlussversuch der Bieler in der Verlängerung. Yanick Stampfli, der «Hinterbänkler», der in dieser Partie bloss 7:49 Minuten Eiszeit bekommen hat (Topskorer Toni Rajala 25:16 Minuten), ist der Held der Partie. Weil der Trainer an ihn glaubt und ihn in der Verlängerung in einer heiklen Phase aufs Eis schickt. Weil er frischer ist als viele seiner Mitstreiter.
Servette verliert zum ersten Mal in den Playoffs 2023 auf eigenem Eis. Es ist die bitterste Niederlage der Saison. Wenn diese Niederlage die Wende ist und Servette am Ende den Titel kostet, dann ist es die bitterste seit über hundert Jahren. Seit der Klubgründung im Jahre 1905. Servette war noch nie Meister. Aber schon elf Mal Zweiter.
Eine kluge Analyse zu diesem Spiel? Natürlich ist die hinterher, wenn wir wissen, wie alles gekommen ist, immer möglich. Nach einem Feldzug ist jeder Soldat ein General. Aber wenn Yanick Stampfli in die beinahe totale Dominanz von Servette hinein den Siegestreffer erzielt, dann haben die Hockeygötter schon ein wenig gewürfelt. Eine Erklärung ist nicht ganz einfach. Eishockey spielen ist manchmal Experimentieren mit dem Zufall.
Oder ist Biels Sieg kein Zufall? Hätte Biel verloren, wäre alles logisch und verdient. Mehr Torschüsse, das bessere Powerplay, am Ende mehr Kraft, Wucht und Energie. Aber Biel hat gewonnen.
Es ist kein Zufall, dass in einem Hockeyunternehmen mit einer so familiären DNA wie Biel, in einer Mannschaft, die sich um ihren an Krebs erkrankten Trainer scharrt und den Teamgeist lebt wie vielleicht nie zuvor eine andere Mannschaft der Neuzeit, dass bei diesem Biel einem wie Yannick Stampfli der Siegestreffer gelingt. Eishockey ist, wie die Nordamerikaner seit hundert Jahren immer wieder betonen, der wahre, der einzige, der echte Mannschaftssport.
Es ist auch kein Zufall, dass in Biels ganz besonderem Reizklima einige Spieler in einem goldenen Karriereherbst aufblühen oder Künstler die taktischen Freiräume zum Wohle der Mannschaft nützen und nicht für sich ausnützen: zum Beispiel Damien Brunner (37), Toni Rajala (32), Beat Forster (40), Noah Schneeberger (34), Robin Grossmann (35) oder Luca Cunti (33). Und es ist auch kein Zufall, dass der Mut zum frechen Spielzug auch in Bedrängnis nie verloren geht. Verteidiger Yannick Rathgebs Vorarbeit zum 0:1 von Toni Rajala ist ein Kunstwerk aus Leichtigkeit, Mut und Spielintelligenz.
Biel entscheidet den Viertelfinal auswärts gegen Bern 1,5 Sekunden vor Schluss. Damien Brunner trifft im zweiten Finalspiel gegen Servette 7,4 Sekunden vor dem Ende zum 3:2. Nun haben die Bieler aus schier aussichtsloser Lage in der Verlängerung in Genf gewonnen. Sie geben eben nie auf.
Ist Biels Kombination aus Leidenschaft, schier unerschütterlichem Selbstvertrauen und spielerischer Leichtigkeit und Kunst eine meisterliche Mischung? Die Bieler sind seit dem Abstieg von 1994 einen langen Weg gegangen. Sie darbten 13 Jahre lang in der Zweitklassigkeit. Sie standen am Rande des Konkurses. Sie retteten sich nach dem Wiederaufstieg von 2008 zweimal hintereinander erst im Drama der Liga-Qualifikation. Sie haben nun in den Playoffs 2023 ihr «Trauma SCB» im Viertelfinal endlich überwunden und im Halbfinal auch die mächtigen ZSC Lions zum ersten Mal in den Playoffs gebodigt.
Wird dieses Biel diese einmalige Chance vergeben? Nein. Biel hat Servette zum zweiten Mal hintereinander mit einem verrückten Tor einen Stich ins Herz versetzt. Kann sich Servette davon erholen? Nein. Das Denkbare denken. Das Machbare machen. Biel wird nach 1978, 1981 und 1983 zum vierten Mal Meister.
Und wenn doch alles anders kommt? Dann haben wir ein paar Geschichten mehr zu schreiben. Biel steht zwei Siege vor dem Meistertitel. Was bedeuten schon zwei Siege, gemessen an der Ewigkeit? Manchmal eine Ewigkeit.
Für den über die Jahre leidgeprüften Fan ist es aber sehr nervenaufreibend... und kein echter Bieler wird es wagen jetzt schon grosse Töne zu spucken. In Antti we trust! Allez!