Neun Runden sind in der französischen Meisterschaft absolviert und an der Tabellenspitze steht überraschend nicht Serienmeister Paris Saint-Germain. Die Hauptstädter liegen vier Punkte hinter dem Leader zurück, und der ist an der Côte d'Azur zuhause: Der OGC Nice mit dem Schweizer Trainer Lucien Favre.
Diesen Tabellenstand hätte vor der Saison kaum jemand erwartet. Zwar klassierte sich Nizza in der Vorsaison auf Rang 4, doch viele gute Spieler verliessen den Klub; es kam zu einem Umbruch. Auch Favre ist neu in Nizza und es gelang ihm auf Anhieb, eine erfolgreiche Equipe zu formen. Und er schaffte es – bis jetzt … – das Enfant terrible Mario Balotelli in eine Mannschaft zu integrieren. Sechs Tore schoss der Italiener bei seinen sechs Einsätzen in der Ligue 1 und in der Europa League.
Lucien Favre hat also auch in Nizza bereits Erfolg. So wie der Ex-Nationalspieler praktisch überall Erfolg hatte, wo er seit seinem Einstieg ins Trainergeschäft, 1991 bei den C-Junioren des FC Echallens, arbeitete.
Vielleicht liegt es ganz einfach an Favres Liebe zum Ball, dass dies so ist. «Im Zentrum stand und steht für mich immer der Ball», sagte der 58-Jährige unlängst zu SI Sport. Wenn ihm ein Ball über den Weg rolle, dann könne er nicht anders, als ihn zu kicken. «Für mich ist Fussball immer schön!», strahlte Favre einst in einem anderen Interview. «Auch das Training ist schön, weil wir zu 98 Prozent mit dem Ball arbeiten. Ich selber jongliere sehr gerne. Der Ball ist meine Droge.»
Natürlich wäre es etwas gar einfach, Favres Erfolg bloss damit zu begründen. Doch es ist ein Detail, das etwas über den Trainer verrät. Nämlich, dass er jemand ist, für den der Fussball immer noch vor allem ein Spiel ist. Der sich am Schönen erfreut. Der auch sagt: «Ohne Dribblings ist Fussball langweilig.»
Das ist ein Satz, der irgendwie nicht richtig zu Favres Image passen will. Denn in der Regel wird er als akribischer Arbeiter bezeichnet. Als Detail-Besessener, als Perfektionist, als «Tüpflischiisser». Und doch passt die Aussage zum Fussball, den Lucien Favre spielen lässt. Kreativität hat beim früheren Mittelfeldspieler einen hohen Stellenwert – solange die defensive Arbeit diszipliniert und gut erledigt wird. «Es wäre dumm, wenn ich einem Spieler, der drei Gegner umdribbeln kann, sagen würde: ‹Spiel früher ab!› Wer an drei Mann vorbeidribbeln kann, spielt für die Mannschaft», erläuterte Favre einst in einem Interview mit dem Magazin 11 Freunde.
Im gleichen Gespräch sprach der Waadtländer über die Schnelligkeit, welche seine Mannschaften oft auszeichnen. «Fussball ist ein Spiegel der Gesellschaft», verglich Favre. «Die Züge fahren schneller, die Informationen verbreiten sich schneller. Im Fussball muss man ebenfalls schnell handeln und antizipieren. Du musst schnell agieren mit dem Ball, schnell zurück in deine Position.» Im Kopf müssen Favres Spieler vor allem schnell sein, nicht bloss mit den Beinen.
Für Favre gehört es auch dazu, im Training nach wie vor auf dem Platz zu stehen. Er als Trainer müsse zwar das grosse Bild im Auge behalten, aber auch dafür schauen, dass die kleinen Dinge richtig gemacht würden, denn «letztlich entscheiden die Details». Es sei für ihn sehr wichtig, seinen Spielern technische und taktische Abläufe in der Praxis vorzumachen. Da ist es wieder: Das Bild des akribischen Trainers.
Was Lucien Favre antreibt, ist nicht in erster Linie das Streben nach Pokalen. Er will jeden Spieler besser machen. «Wenn du willst, kannst du lernen, bis du tot bist», sagte er dazu und er lebt dieses Motto auch selber vor. Ihn interessiere alles: Politik, Wirtschaft, Ökologie, Natur oder Kino. «Wenn ich über etwas lese, wovon ich noch nichts gehört habe, bin ich glücklich. Wenn ich etwas gelernt habe, bin ich den ganzen Tag zufrieden.» Favre versucht auch, dabei stets etwas zu finden, das ihm bei seiner täglichen Arbeit auf dem Rasen helfen könnte. So las er beispielsweise das Erfolgsbuch «Darm mit Charme», um seinen Spielern möglicherweise Ernährungstipps geben zu können. Ein Trainer, dem Kreativität so wichtig ist und der trotzdem möglichst nichts dem Zufall überlassen will.
So erkennt der Philosoph eine weitere Parallele zur heutigen Gesellschaft. Nämlich dann, wenn beide Abwehrreihen aufrücken und sich bis zu 20 Spieler auf engstem Raum an der Mittellinie aufhalten – Dichtestress auf dem Fussballplatz. «Heute leben acht Milliarden Menschen auf der Erde und wir haben weniger Platz. Dafür muss man Lösungen finden. Im Spiel ist eine, in die Tiefe zu laufen. Oder man muss Geduld bewahren und zurückspielen. Aber letztlich muss man immer die Tiefe finden, durch einen Pass, einen Sprint oder eben ein Dribbling.»
Kreativer Freigeist oder akribischer Arbeiter? Lucien Favre ist wohl beides – und dazu auch ein Zweifler. Es gibt viele Geschichten darüber, wie sehr er oft grübelt, sich mit Entscheiden schwer tut und nachdem sie gefällt sind, mit ihnen hadert. Besonders nach Favres letzter Trainerstelle waren die Stimmen zahlreich, die an diese Seite des Fussballlehrers erinnerten. Nach einem völlig verkorksten Saisonstart schmiss Lucien Favre in Mönchengladbach den Bettel hin, obwohl die Klubleitung ihn gestützt hatte. Schon 2006 versah die NZZ ein Portrait über Favre, damals beim FC Zürich, mit dem Titel: «Der Meistertrainer, der nicht leicht zu verstehen ist».
Ein Jahrzehnt später ist dieser Lucien Favre nun also in Nizza tätig. Etwas Neues habe er gewollt, begründete er den für viele Beobachter überraschenden Schritt. Der Fussball habe in jedem Land seine Eigenheiten und nach Jahren in der Schweiz und in Deutschland habe ihn Frankreich gereizt.
Favre war sich der Aufgabe bewusst, die auf ihn wartete. PSG, Monaco oder Lyon haben mehr Geld zur Verfügung, er verschwende deshalb keinen Gedanken an den Meistertitel. Erst müsse er in Nizza die einzelnen Teilchen zusammentragen und die Mannschaft zum Funktionieren bringen. «Das ist eine grosse Aufgabe. Aber genau das wollte ich. Ich mag es, wenn es richtig schwierig wird.»
Womöglich ist es das, was Lucien Favre antreibt: Allen zeigen zu können, was mit beschränkten Mitteln möglich ist. In Zürich gelang ihm nicht für möglich Gehaltenes. In Mönchengladbach setzte er sich ebenfalls ein Denkmal. Vielleicht hat Favre deshalb Erfolg, weil man ihn dort, wo er arbeitet, einfach machen lässt. Bei einem Grossklub wäre das möglicherweise nicht der Fall.
Wer früher mit Lego spielte, der kennt es wahrscheinlich: Am meisten Spass machen die Klötzchen, wenn man damit etwas baut. Ist dann ein Haus erstellt, spielt man höchstens kurz damit, bevor man sich wieder freudig und eifrig an den Bau eines neuen Hauses macht. Lucien Favre spielt nicht gerne mit einem fertig gebauten Haus – viel lieber baut er neue, glanzvolle Villen. Ihn macht es glücklich, wenn es ihm gelingt, seine Spieler besser zu machen. Und wenn er weiterhin jeden Tag gegen einen Ball treten kann.