Er hat in London, in Mailand, in Valencia, in Birmingham, in Zürich, in Glasgow und in Houston gespielt. Und nun Chiasso. Kleinstadt, strukturschwach, unprätentiös, ja sogar unbedeutend, wenn man die Grenze zu Italien ausblendet. Das Bild, das der lokale Fussballklub abgibt, ist ebenso trist. Lottrige Infrastruktur, kaum Zuschauer und auf allen Ebenen ein Kommen und Gehen. Konstant ist einzig, dass jede Saison rund 20 neue, unbekannte Kleinverdiener auf dem Platz stehen, die um den Klassenerhalt in der Challenge League kämpfen. Warum tut sich Philippe Senderos, ein Held des Schweizer Fussballs, das an?
Das fragen sich viele. Darunter auch Sandro Burki, heute Sportchef beim FC Aarau, vor 17 Jahren Senderos’ Teamkollege in der U17-Auswahl, die sensationell den EM-Titel gewonnen hat. Senderos hat Millionen verdient und in London Frau und Haus, und er wurde erst im September zum zweiten Mal Vater. Er könnte es sich problemlos leisten, jetzt, mit bald 35, die Füsse hochzulegen und seine Kinder beim Aufwachsen zu beobachten. Oder er könnte sich auf die Karriere danach vorbereiten, statt seinen eh schon stark ramponierten Körper auf einem holprigen Rasen zu schinden mit dem Ziel, nach wochenlangem Aufbautraining in der Challenge League zu debütieren. «Ich liebe Fussball. Ich liebe die Herausforderung. Das ist die einzige Antwort auf diese Frage», sagt Senderos.
Liebe! Dabei ist Senderos nicht der Mann der grossen Gefühlsregungen. Unterkühlt, distanziert, wortkarg, ernsthaft, skeptisch. Typ Musterprofi. So wird er von vielen gesehen. «Stimmt nur zum Teil», sagt Burki. «Philippe ist empathisch und kann sehr witzig und warmherzig sein. Aber er war halt auch schon sehr früh erwachsen, weshalb viele in ihm einzig den seriösen Fussballer sehen, der er zweifellos auch ist.»
Um Senderos zu verstehen, muss man zurückblicken. Julian Senderos, ein Spanier, und Zorica Novkovic, eine Serbin, lernen sich in Genf kennen. Einwanderer, wie viele andere auch in diesem Land. Mit kleinem Portemonnaie und grossem Herzen. Und dem Ziel, sich rasch zu integrieren, ihre Buben Julien und Philippe in der Spur der Tugend zu halten in der Hoffnung, dass sie dereinst ein gutes Leben führen werden. Nicht, dass das Leben der Familie Senderos schlecht war. Im Gegenteil. Philippe spricht von einer glücklichen Jugend. Auch wenn das Geld knapp war, beide Elternteile arbeiten mussten und man es sich nicht leisten konnte, in die Sommerferien nach Spanien zu fliegen, sondern im Toyota-Bus reiste. «Punkto Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein konnte ich mich früh entwickeln», sagt Senderos heute.
Dazu eine bislang unerwähnte Geschichte. Während der U17-EM wurde es zum Ritual, dass Senderos am Abend vor den Spielen jeweils in die Zimmer ging, um mit jedem Spieler zu reden. «Er gab uns Zuversicht und Mut», erzählt Sandro Burki. «Er wies darauf hin, wie gut wir seien. Und er sagte, worauf wir im nächsten Spiel achten sollen. Wahnsinn, er war ja noch ein Teenager, nicht älter als wir. Aber er verhielt sich schon damals wie ein echter Leader.» Als der Teamcaptain am Abend vor einem Spiel kurz vor dem Zapfenstreich noch immer nicht in Burkis Zimmer erschienen war, hielt dieser im Gang Ausschau und sah dabei etliche Kollegen. Alle warteten auf Senderos. So viel zu seiner Akzeptanz in jenem Team.
Senderos erinnert sich nicht mehr an die Episode mit den wartenden Kollegen im Hotelgang. Aber er weiss natürlich noch, was ihn zur Zimmer-Aktion animierte: «Ich fühlte Verantwortung für diese Mannschaft. Für mich war es wichtig, die Mitspieler zu spüren, zu erfahren, was sie denken und fühlen und im Dialog herauszufinden, was wir als Mannschaft noch besser machen können. Wissen Sie: Ein Jahr zuvor durfte ich bereits an die U17-EM. Damals schieden wir nach den Gruppenspielen aus. Da habe ich mir geschworen, dass wir ein Jahr später, mit meinem Jahrgang, jeden Gegner aus dem Weg räumen.» Und so kam es auch.
Das Training in Chiasso ist zu Ende. Statt unter die Dusche zu huschen, um nachher in seiner Wohnung in Como mit der Familie in London zu telefonieren, bleibt er auf dem Platz. Ihm ist nicht verborgen geblieben, dass ein junger Mitspieler an seinen Fähigkeiten zweifelt. Viele Flanken hinters Tor, viele technische Fehler. Senderos legt den Arm um den Spieler und schreitet mit ihm ans andere Ende des Platzes. Er redet mit ihm, er übt mit ihm, redet wieder, zeigt ihm etwas vor und übt wieder. 30 Minuten vielleicht. Dann macht er Schluss.
Senderos ist nicht brillant, war es nie. Aber mit seinem klaren Spiel, seinen Führungsqualitäten, seiner Physis und seiner Leistungsbereitschaft wird der Innenverteidiger früh als gut genug eingestuft, um mit respektive gegen Weltklassespieler bestehen zu können. Schon mit 16 will ihn Bayern München verpflichten. Mutter Zorica drängt geradezu auf einen Wechsel nach Deutschland. Weil sie glaubt, dass er dort am ehesten die Matur macht. Vater Julian indes reist in seine Heimat Spanien. Zurück in Genf, wirbt er für einen Wechsel zu Real Madrid, seinem Real Madrid. Wer würde da nicht schwach? Aber Philippe blockt ab. Er will auf die Insel. Er will seinen Traum statt den seines Vaters leben.
Er reist nach Manchester und London, wo United und Arsenal um ihn buhlen. Und gibt den Londonern den Zuschlag. Nicht, weil sie das beste Angebot machen. Sondern, weil zu dieser Zeit kaum ein Trainer so kompromisslos auf junge Spieler setzt wie Arsenals Arsène Wenger.
Ein Entscheid, der ihm die Türen zu Reichtum, Ruhm und familiärem Glück öffnet. Burki, der Spielmacher jenes U17-Teams, wechselte nach dem EM-Triumph zu Bayern München und kehrte schon nach einem Jahr wieder in die Schweiz zurück. «Wissen Sie», sagt Senderos, «wenn ich gemacht hätte, was die anderen von mir erwarteten, wäre ich nicht mit 18 von zu Hause weg nach London gegangen, hätte ich nicht mit 24 zur AC Milan gewechselt, hätte ich vor zehn Jahren vor den vielen Verletzungen kapituliert und meine Karriere beendet.»
Und natürlich sässe er jetzt auch nicht hier, auf der Tribüne des Stadio Riva IV in Chiasso. «Ich habe die grossen, schönen Dinge des Fussballs gesehen. Wie die Leute über meine Entscheidungen denken, ist für mich nicht wichtig. Natürlich sind die Dimensionen hier ganz anders als in London oder Mailand. Aber das sind Dinge, die jetzt, gegen Ende meiner Karriere, keine Rolle mehr spielen.»
Trotzdem: Chiasso. Mamma mia. Abgeschlagen am Tabellenende der Challenge League. Durchschnittlich 549 Zuschauer im Stadion. Das ist doch kein standesgemässer Klub für einen, der mit der Schweiz an drei Weltmeisterschaften teilgenommen und mit Arsenal den FA Cup gewonnen hat.
Und dann noch die Trennung von der Familie, die in London lebt. Und das Baby, eben erst auf die Welt gekommen, sieht er kaum. «Wissen Sie», sagt Senderos, «ich war häufig verletzt. Es gab viele Nächte, in denen ich vor Schmerzen nicht schlafen konnte. Auch wenn es klischiert tönt: Tiefpunkte zu überstehen, macht einen stärker, gibt Zuversicht. Und ich musste viele Tiefpunkte überstehen.»
Aber die Familie? «Wissen Sie», sagt Senderos, «mir ist bewusst, dass ich nicht mehr nur an mich selber denken kann. Aber für meine Frau und mich ist das keine neue Situation. Als sie mit unserem ersten Kind schwanger war, lebte ich in Birmingham und sie in London. Zugegeben: Das ist für uns beide nicht einfach. Aber ich muss und will arbeiten. Ich muss ein Vorbild sein für meinen Sohn. Okay, Papa ist nicht da, das ist vielleicht nicht sehr vorbildlich. Aber Papa arbeitet, will sich verbessern, sucht die Herausforderung und will dazu lernen – das ist doch vorbildlich, oder? Und das will ich meinen Kindern mitgeben, dieses Bild sollen sie von mir haben.»
Und dann spult dieser Senderos nicht einfach sein Pensum runter, sondern setzt sich auch noch für junge Spieler ein. Grosse Klasse!