Allein das Stadion lädt zum Träumen ein. Mitten im Wohnquartier St. Gilles in Brüssel gelegen, ist das Stade Joseph Marien etwas für Romantiker. Wenn man vom Duden Park kommt, schimmert die über hundertjährige Backsteinfassade durch Bäume und Büsche, auf der Haupttribüne sind Sitze aus Holz zu sehen.
1919 wurde das Stadion erbaut, heute ist es denkmalgeschützt. Als es noch modern war, zählte Royale Union Saint-Gilloise zu den grössten Klubs Belgiens. Elfmal bejubelte der Verein den Meistertitel, zum letzten Mal 1935. In den 1970er-Jahren verschwand der Klub in den Niederungen des belgischen Fussballs.
Erst seit dem letzten Sommer ist USG zurück in der höchsten Liga – und grüsst dort sensationell von der Tabellenspitze. Der grosse Nachbar Anderlecht, Royal Antwerpen und Meister Brügge haben bisher das Nachsehen. Neun Punkte beträgt der Vorsprung von Saint-Gilloise auf Brügge. «Es ist wirklich ein Märchen. Wenn eine Mannschaft aufsteigt, ist es kaum zu glauben, dass sie einfach weiter gewinnt», sagt Trainer Felice Mazzu gegenüber der ARD.
So schön die romantische Geschichte des Traditionsvereins ist: Sie hat wie fast überall mit dem Einstieg eines Investors zu tun. 2018 übernimmt Tony Bloom den Verein. Der Engländer hat als Pokerspieler und mit Sportwetten Millionen verdient und ist mathematisch so hoch begabt und kaltblütig, dass er den Spitznamen «The Lizard», die Eidechse, trägt. Zuvor hatte er schon seinen Heimatverein Brighton & Hove Albion in die Premier League gehievt, nun führt er den gefallen Riesen zurück an die Spitze der belgischen Liga.
💛 𝙏𝙝𝙞𝙨 𝙩𝙚𝙖𝙢 💙 pic.twitter.com/m7yv9CAs6h
— Royale Union Saint-Gilloise (@UnionStGilloise) February 19, 2022
Dank intensiver Datenanalyse sucht Bloom mit seinem Geschäftspartner Alex Muzio, der ebenfalls zehn Prozent der Klubanteile besitzt, und Sportdirektor Chris O’Laughlin nach eigentlich gescheiterten Spielern, die bei USG durchstarten. Auf ein solches datenbasiertes Scouting setzen viele Klubs, allen voran Brentford aus England oder Midtjylland aus Dänemark.
Auf diese Weise stiess Union Saint-Gilloise auch auf Cameron Puertas. Der 23-jährige Schweiz-Spanier wechselte im Januar von Lausanne nach Belgien. Dort kommt er bisher zwar beim Leader nicht über die Rolle des Einwechselspielers hinaus, aber die Pläne mit Puertas, der im Mittelfeld von Lausanne mittlerweile an allen Ecken und Enden fehlt, sollen gross sein.
Die Leistungsträger des Sensationsleaders sind unbekannte, dafür talentierte Spieler aus aller Herren Ländern. Als Mazzus Vorgänger Thomas Christiansen vornehmlich auf belgische Talente setzen wollte, wurde er am Tag darauf entlassen. Stattdessen kommt der Captain Teddy Teuma aus Malta, weitere Leistungsträger sind der Däne Casper Nielsen oder der Deutsche Deniz Undav. Letzterer, im Nachwuchs von Werder Bremen als zu klein befunden, hat in 28 Ligaspielen 20 Tore erzielt und 10 Vorlagen gegeben. Im Sommer wird er sich dann dem grossen «Bruder» Brighton anschliessen.
Dass das Team auseinanderfallen wird, daran gibt es keine Zweifel. «Ich fürchte es nicht, ich weiss, dass Spieler gehen werden», sagt Trainer Mazzu. «Wir haben hier Spieler, die explodiert sind. Da wird es Angebote von Klubs mit grossem Namen geben.» Die nächsten Talente werden mittels Datenbank bereits gesucht.
Investorenklubs sind in Belgien sehr häufig, weshalb es wenig Diskussionen über die Tatsache gibt, dass es sich bei USG um ein «Farmteam» handelt, wie man es hierzulande von Lausanne oder GC kennt. Die späte Rückkehr eines gefallenen Riesen tut der leidgeplagten belgischen Liga umso besser. Nach dem Skandal von 2018 steht sie noch immer unter Schock. Mehr als 50 Personen sollen vor Gericht kommen, wie kürzlich öffentlich wurde. Es geht um Spielmanipulation, Geldwäsche und Korruption.
📊 Journée 28 : Check ✅ pic.twitter.com/miGuKesJkU
— Royale Union Saint-Gilloise (@UnionStGilloise) February 21, 2022
In Zeiten solcher Schlagzeilen kommt das Märchen von Saint-Gilloise gerade recht. Und Trainer Mazzu lässt die Träume nach dem Titel zu: «Wir als Team wollen weitermachen, wir wollen diesen Traum weiter träumen», sagt er. Und Stürmer Undav sagt: «Alle dachten doch vor der Saison ‹Die werden eh viele Spiele verlieren›, aber wir haben an uns geglaubt und gezeigt, wie stark wir sind.» Die entscheidende Phase kommt mit den Playoffs in der belgischen Liga aber noch.
Der Titel für Union Saint-Gilloise wäre der Höhepunkt einer Rückkehr eines grossen Traditionsklubs, der noch immer der dritterfolgreichste Verein des Landes ist. Er wäre nicht nur ein Traum für die leidenschaftlichen Fans des Quartiervereins, sondern auch ein Märchen für alle Fussballromantiker. Dabei ist es ganz egal, ob das denkmalgeschützte Stadion im Quartier bald durch einen Neubau an einem anderen Standort ersetzt werden soll oder der Höhenflug auf dem Geld eines Pokerspielers beruht. Die Geschichte ist einfach zu schön.