Der Wintersport ist schon lange in den Millionenstädten angekommen: Eishockey wird seit bald hundert Jahren in Manhattan im Madison Square Garden, in Zürich oder in Berlin gespielt. Die Eissportarten sind in der olympischen Geschichte schon oft in Grossstädten ausgetragen worden: in Salt Lake City oder in Vancouver. Die Winterspiele sind urban geworden. Also können wir sagen: Winterspiele in Peking, na und?
Aber die Magie der Winterspiele geht halt von den Schneesportarten aus. Der Höhepunkt: die Abfahrt. Die Formel 1 auf gefrorenem Schnee. Sage mir, wie es dort ist, wo die Abfahrt ausgetragen wird, und ich sage dir, ob die Spiele eine Seele haben.
Und so beschliesst der Chronist, die Raumstation Peking zu verlassen und in die Aussen-Raumstation Yanking rund 100 Kilometer nördlich von Peking zu reisen. Um der Abfahrt der Männer beizuwohnen.
Natürlich darf der Chronist die Raumstation (die olympische Blase) nie verlassen. Er reist erst mit der Eisenbahn (bis 183 km/h Höchstgeschwindigkeit), dann in zwei Etappen mit dem Bus und schliesslich am Ende mit der Gondelbahn.
Diese Verbindungen zwischen der Mutter-Raumstation in Peking und der Aussen-Raumstation in den Bergen sind für die Eingeborenen nicht zugänglich. Sie sind hermetisch abgeriegelt.
Das macht die Fahrt speziell. Du schaust durchs Fenster und weisst: Zu denen da draussen darf ich nicht. Wir sind hier drinnen sicher. So wird es einmal auf dem Mars sein, wenn wir dort von Raumstation zu Raumstation fahren: Nur ja nicht aussteigen und diese feindliche Welt betreten.
Also hinaus aus der grossen Stadt. Ach, wie schön wird es sein, endlich in die Berge zu kommen! Verschneite Tannenwälder und mächtige Schneeberge. Und sicherlich hatten die Architekten der Olympischen Bauten den heimeligen alpinen Chalet-Stil ein wenig vor Augen. Der Chronist freut sich auf ein chinesisches Winter-Wunderland.
Dass von Peking aus keine Schneeberge zu sehen sind: kein Problem. Soweit ich mich erinnern kann, sahen wir weder in Calgary, noch in Salt Lake City oder in Vancouver mächtige Schnee-Gebirge. Auch da mussten wir zu den Winter-Wunderlandschaften reisen.
Die Fahrpläne sagen: Die Reise ins Winter-Wunderland wird mit den Wartezeiten beim Umsteigen fast drei Stunden dauern. Das ist ungefähr so, wie wenn wir von Zürich aus nach St.Moritz reisen. Die Stadt Zürich ist ja auch kein Winter-Wunderland. St.Moritz hingegen schon. Dort sind sogar schon zweimal die Winterspiele ausgetragen worden (1928, 1948). Eine Reise also wie von Zürich nach St.Moritz?
Der hochmoderne Zug rollt leise aus der Stadt hinaus. Hochhäuser. Konjunkturbäume (Baukrane). Wie das halt so ist in urbanen Zentren. Die Fahrt mit der Eisenbahn dauert nur eine halbe Stunde. Umsteigen in den Bus. Unterwegs noch einmal in einen anderen Bus wechseln.
Fahren wir tatsächlich in Richtung eines Winter-Wunderlandes? Das kann doch nicht sein? Flach das Land. Ausgetrocknet. Wüstenähnlich. Kein Schnee.
Schliesslich kommen wir doch in die Berge. Die Strasse windet sich hoch, über Brücken, durch Schluchten und Tunnels. An den umliegenden Hängen: kein Schnee. Auf den Bergspitzen: kein Schnee. Eine staubtrockene, ausgedörrte Kältewüste. Wo sind wir bloss hingekommen? Eine Landschaft, die eher an die Wüste Sinai mahnt.
Und dann die Erlösung. Kurz vor der Talstation der Gondelbahn, die den Reisenden zum Zielgelände der Abfahrt bringt: Schnee! Eine Erlösung wie für die tapferen Seeleute, die einst nach einer Atlantiküberquerung Land gesehen haben.
Ein schmales, schneeweises Band über nacktem, braunem Felsen. Kunstschnee. Verrückt. In Europa und in Amerika haben wir gewaltige Schneeberge. Denken wir doch nur ans Lauberhorn! Aber die Abfahrer, die Formel 1-Piloten des Winters, die mutigsten olympischen Helden, sind um die halbe Welt geflogen, um sich an diesem hässlichen, unwirtlichen Ort zu messen. Was für eine Verrücktheit.
Natürlich: Wir haben darüber gelesen. Bilder im Fernsehen gesehen und am Radio davon gehört. Aber wie absurd, verrückt eine olympische Skipiste hier in dieser Gegend tatsächlich ist, kann der Verstand erst bei einem Augenschein im ganzen Ausmass erfassen. Ein beliebtes Skigebiet? Wer es glaubt, zahlt einen Taler. Die hier errichteten Gebäude haben den Charme eines Katastrophenfilmes. Unvorstellbar, dass hier jemand zum Vergnügen hinreist. Aber vielleicht ist ja in China alles anders.
Der Reisende gehört nicht zum Skizirkus. Er bewundert die mutigen Männer der Berge, sozusagen die sportlichen Erben Bernhard Russis und betrachtet das Ganze halt mit einer gewissen Naivität (oder vielleicht ist es ja ein bisschen gesunder Verstand). Und er denkt: So werden einmal Olympische Winterspiele auf dem Mars sein. Dort ist es ja auch trocken, die Felsen haben, soweit wir das auf Abbildungen gesehen haben, eine ähnliche Farbe wie hier und die Raumstation (die olympische Blase) dürfen wir dort oben dann auch nicht verlassen. Dass die Abfahrt vom Winde verweht wird und verschoben werden muss, passt zu dieser olympischen Absurdität.
Nach anderthalb Stunden verlässt der Chronist den garstigen, kalten, zugigen Ort wieder. Desillusioniert. Und ein wenig enttäuscht, dass er keinen echten Schnee, keine verschneiten Tannen und kein Chalet gesehen hat.
Aber dann hört er auf der Talfahrt mit der Gondelbahn vertraute Klänge. Kein Alphorn. Kein Schwyzerörgeli. Aber das Krähen eines Rabenvogels. Und tatsächlich: Raben! Wunderschöne, grosse Raben! Olympische Raben!
Die Berge der Raben. So weit sind wir also gekommen: Rabenvögel sind alles, was uns vom olympischen Winter-Wunderland geblieben ist.