Die neue olympische Zeitrechnung beginnt in unserem Hockey 2002 mit Salt Lake City. Seither waren bei allen Turnieren (2002, 2006, 2010, 2014 und 2018) NHL-Titanen die Nummer 1: David Aebischer, Martin Gerber und Jonas Hiller.
Martin Gerber und Jonas Hiller standen Leonardo Genoni in der olympischen Sonne. Deshalb hat er bis heute auf dieser Bühne erst eine einzige Partie bestritten. Vor vier Jahren 2018 in Südkorea. Beim Auftakt gegen Kanada. Jonas Hiller sitzt auf der Bank. Nach 25 Minuten und 52 Sekunden führt Kanada 4:0 und Leonardo Genoni hat nur 66,67 Prozent der Schüsse pariert. Patrick Fischer nimmt ein Timeout, holt Genoni vom Eis und fortan spielt nur noch Hiller.
Nun hat Zugs Meistergoalie in Peking die Chance, diese olympische Schmach, den einzigen «Tolggen» im Karriere-Reinheft, zu tilgen. Er sagt, er habe Südkorea schon fast vergessen gehabt und sei erst kürzlich wieder daran erinnert worden. Er hatte damals Glück: Drei Monate nach dem olympischen Flop wird der Zürcher bei der WM in Kopenhagen zum Silberhelden.
Südkorea 2018 soll sich in Peking nicht wiederholen. Leonardo Genoni sagt: «Ich war übermotiviert und hätte am liebsten auch noch die Tore geschossen.» Daraus habe er seine Lehren gezogen. Welche? «Mich mehr auf mein Spiel konzentrieren. Einfach die Schüsse abwehren. Und vielleicht auch noch ab und an den gefangenen Puck den Linienrichtern geben, damit sie sich nicht bücken müssen. Dann sind auch sie zufrieden …» Er sei inzwischen vier Jahre älter und erfahrener und das mache ihn stärker.
Anders als Reto Berra (34), der zwischen 2013 und 2018 mehr als 150 Partien in Nordamerika spielte (NHL und AHL), hat Leonardo Genoni noch keine Erfahrung auf den kleineren NHL-Spielfeldern, die rund ein Drittel schmäler sind. Mit 34 kommt er in Peking zur Premiere auf dem ungewohnt kleineren Eisfeld.
Noch könne er nicht sagen, welchen Einfluss diese Umstellung auf sein Spiel haben wird. Grundsätzlich gilt: Für Torhüter ist es schwieriger, ihr Winkelspiel vom kleinen aufs grosse Eisfeld umzustellen als umgekehrt.
Seit der Silber-WM 2018 ist Leonardo Genoni bei Patrick Fischer die Nummer 1. Reto Berra kommt zwar regelmässig zum Zug. Aber nur noch bei Gruppenspielen. Ab dem Viertelfinal setzte der Nationaltrainer bei den WM-Turnieren von 2018, 2019 und 2021 auf Leonardo Genoni. Reto Berras letzte Heldentat bei einem Titelturnier liegt nun schon 9 Jahre zurück: Er hexte die Schweizer bei der WM 2013 gegen die USA (3:0) in den Final und zur ersten Medaille seit 1953.
Die zentrale Frage also: Wird Leonardo Genoni auch in Peking die Nummer 1 bleiben? Auch aus diesem Grund sind die drei eigentlich bedeutungslosen ersten drei Partien am Mittwoch gegen Russland, am Freitag gegen Tschechien und am Samstag gegen Dänemark wichtig. Niemand scheidet aus, fürs Achtelfinal reicht es auf jeden Fall. «Aufwärmspiele» also. Denn um direkt in den Viertelfinal zu kommen, müssten mindestens zwei der drei Partien gewonnen werden. Fast nicht möglich. Die Zielsetzung (Halbfinal) kann auch auf dem Umweg über den Achtelfinal erreicht werden. Die Deutschen kamen vor vier Jahren so bis in den Final.
Wichtiger als eine direkte Viertelfinalqualifikation: Nach diesen drei Partien muss klar sein, wer die Nummer 1 ist. Die Schweizer sind noch mehr als die anderen grossen Teams auf einen Weltklassegoalie angewiesen.
Wer beim Auftakt gegen Gold-Favorit Russland unser letzter Mann sein wird, ist noch offen. Patrick Fischer pflegt auf entsprechende Erkundigungen zu sagen: «Fragen Sie mich nicht. Die Goalies werden am Tag vor dem Spiel informiert, offiziell wird es am Spieltag …»
Leonardo Genoni oder Reto Berra? Das ist die Schicksalsfrage für die Schweizer. Sollte auf einmal unsere Nummer drei – Sandro Aeschlimann – zur Nummer 1 werden, dann muss die Geschichte dieser Olympia-Expedition wohl von Grund auf neu geschrieben werden.
Eine Niederlage zum Auftakt gegen Russland hat zwar noch keine Folgen. Und kann doch wegweisend sein. Leonardo Genoni sagt, es sei wichtig, gleich von Anfang an die beste Leistung abzurufen. Um Selbstvertrauen und gute Stimmung aufzubauen.
Ein Fehlstart wie vor vier Jahren gegen Kanada (1:5, Leonardo Genoni ausgewechselt) würde die Dämonen des Zweifels aufwecken.
Zweifelnde Schweizer kämen nicht weit.