Nach 298 Tagen nonstop fahrradfahren, rollt Tommy Godwin auf dem Trafalgar Square in London ein. Endlich hat er es geschafft: Der Weltrekord ist in der Tasche. So weit wie er ist noch nie jemand in einem Jahr Fahrrad gefahren. Die bisherige Bestmarke von Ossie Nicholson, welcher im Jahr 1937 100,837 Kilometer zurückgelegt hatte, ist geknackt. Und das ganze 66 Tage vor der Deadline.
Begonnen hatte Tommy Godwin seine Odyssee am 1. Januar. Vor dem Start soll er zur bevorstehenden Herkulesaufgabe gesagt haben: «Wieso nicht? Wieso ist Mallory auf den Mount Everest geklettert? Einfach weil der Berg da ist!»
1910 verkündete das Magazin «Cycling» den «Jahrhundert Wettkampf des Radfahrens» oder die «Cycling's Century Competion.» «Wie weit kann ein Mann in einem Jahr Fahrrad fahren?», war die Frage.
1911 dann der erste Rekord: Der Franzose Marcel Planes strampelt ein ganzes Jahr und legt ganze 55'790 Kilometer zurück. Zum Vergleich: Die Tour de France 2014 war 3664 Kilometer lang. Planes absolvierte in einem Jahr also gut 15 Mal Tour-de-France-Strecke.
Weil nach Planes' Rekord der Erste Weltkrieg ausbrach, blieb die Bestmarke des Franzosen lange unberührt. Es dauerte bis ins Jahr 1932, ehe der Brite Arthur Humbles einen neuen Bestwert aufstellen konnte. Danach purzelten die Rekorde quasi im Jahrestakt. Bis zum Rekord von Tommy Goldwin. Dieser ist für die Ewigkeit.
Schon am ersten Tag legt Godwin eine Distanz von 376 Kilometern zurück. Pro Tag will der 27-jährige Engländer im Schnitt 200 Meilen (321.87 km) zurücklegen. Und dies mit einem rund 15 Kilogramm schweren Fahrrad mit einem Stahlrahmen. Defekte muss er allesamt selber flicken, Gänge hat das Fahrrad lediglich vier. Nun könnte man behaupten, dass im mehrheitlich flachen England auch nicht mehr als vier Gänge nötig sind. Damit liegt man aber falsch: Die Aufstiege sind zwar nicht lang, dafür steil und giftig.
Was dem Extremsportler aber weitaus mehr Probleme bereitet, ist das Wetter. Der Winter auf der britischen Insel – er fährt ausschliesslich auf englischen Strassen – verlangt dem Abenteurer alles ab. Nicht selten kommt Godwin abends völlig durchnässt und unterkühlt im Ziel an. Die Kleider sind einfach, von Gore Tex und Windstopper keine Spur. Viele Schichten Baumwolle sind Programm.
Das alles hält Godwin aber nicht von seinem Unterfangen ab. «Kuhnagel», «Bärenhunger» und «Wolf» bereiten dem Rekord-Jäger zwar tierische Schmerzen, doch der Kämpfer beisst sich durch. Tag für Tag steigt er in die Pedalen. Oftmals kommt er nur zu vier Stunden Schlaf oder weniger. Hin und wieder muss er sich über Mittag ins Feld legen, um kurz ein paar Minuten wegzudösen und Energie zu sammeln.
Ein wahrer Tausendsassa. Einmal rettet er sogar eine Frau aus einem brennenden Haus, haltet mit ihr einen kurzen Schwatz, fährt dann aber sofort wieder weiter. Zeit ist für Godwin nicht Geld – laut seiner Tochter ist er nämlich äusserst bescheiden – sondern Kilometer.
Apropos Kilometer: Am 21. Juni legt Godwin mal so eben 580 Kilometer zurück. Das entspricht etwa der Strecke Zürich – Nizza. Und weil er grad so schön im Schwung ist, folgt am nächsten Tag eine 465-Kilometer-Etappe. Schliesslich ist es auch lange hell, die guten Lichtverhältnisse müssen ausgenutzt werden. (Zu den detaillierten Kilometerzahlen jeder Etappe geht es hier)
So verwundert es nicht, dass Godwin bereits 66 Tage vor dem Jahresende einen neuen Weltrekord aufstellt. Und jetzt? Grosse Party, Après-Bike-Bierchen und Gala-Diner? Denkste! Godwin kann gar nicht mehr anders als Rad zu fahren und feiert seinen Weltrekord am nächsten Tag mit einem 374 Kilometer langen Veloausflug.
Am 300. Tag seines Abenteuers macht Godwin die erste Pause. Nach 299 Tagen auf dem Sattel bleibt der Radler für einen Tag zu Hause. Dabei tankt er so viel Energie, dass er bis zum Jahresende pausenlos weiterstrampeln kann. So kommen bis zum 31. Dezember 120'805 Kilometer zusammen. Das entspricht einem Tages-Schnitt von 330 Kilometern.
Anders ausgedrückt: Tommy Godwin ist einem Jahr drei Mal um die Erde gefahren. Oder er hätte 33 Mal die Tour de France 2014 absolvieren können. Und das natürlich komplett ohne Doping. Alles was der Ausdauersportler nämlich zu sich nahm, war normalerweise Brot, Milch, Käse und Eier.
Der Rekord von Tommy Godwin bleibt bis heute ungeknackt. Das Guiness Buch der Rekorde lässt auch gar keine neuen Versuche zu. Das Unterfangen sei schlichtweg zu gefährlich. So hat Tommy Godwin mit seiner fast schon übermenschlichen Leistung eine Marke für die Ewigkeit gesetzt. Das, was er geleistet hat ist wortwörtlich einmalig.
Aber wissen Sie was das Beste an der ganzen Geschichte ist? Was hat der Rekordmann wohl am Tag 1 nach seinem Rekord gemacht? Er ist natürlich aufs Rad gestiegen. Und auch am Nächsten, am Übernächsten und am Überübernächsten. Solange, bis er am 500. Tag die 100'000-Meilen-Marke knackte.
Auch wenn Tommy Godwin wahrscheinlich am liebsten noch sein Leben lang weitergefahren wäre, ist nach dem Tag 500 Schluss. Denn der Brite muss ins Militär. Der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange. Ob er da allerdings eine grosse Hilfe war, bleibt zu bezweifeln. Nach 500 Tagen im Sattel musste er angeblich erst mal wieder richtig laufen lernen.