Eigentlich galt der Weitsprung-Weltrekord als unknackbar. Mit dem «Sprung ins nächste Jahrtausend» hatte Bob Beamon 1968 in der Höhe von Mexiko City und mit maximal zulässigem Rückenwind von zwei Meter pro Sekunde eine Marke gesetzt, die scheinbar für die Ewigkeit bestimmt war. Um 55 Zentimeter verbesserte der Amerikaner den Weltrekord auf unglaubliche 8,90 Meter: Wer soll diese Weite übertreffen können?
23 Jahre lang beissen sich sämtliche Weitspringer dieser Welt daran die Zähne aus. Gegen Ende der 80er-Jahre kommt der Sowjet Robert Emmijan der Marke mit 8,86 Metern bedrohlich nah, doch erst das Duell der Duelle zwischen Carl Lewis und Mike Powell bei der Leichtathletik-WM 1991 in Tokio bringt eine neue Bestmarke.
Die beiden sind damals alles andere als Freunde. Lewis ist der Cover-Boy der Leichtathletik-Szene und gilt im mit Spannung herbeigesehnten Weitsprung-Wettbewerb als grosser Favorit. Schliesslich hatte er 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul Olympiagold geholt und war 1983 und 1987 Weltmeister geworden.
Powell, der 1988 Silber holte, ist der klassische Underdog, den damals kaum einer kennt. 15 Mal war er gegen Lewis angetreten, 15 Mal hatte er verloren. Um Lewis erstmals zu schlagen, macht er ihn «zum Feind, zum Dämon». Zumindest in seinen Gedanken.
Doch «King Carl» erwischt an diesem vorletzten WM-Tag vor 70'000 Zuschauern den besseren Start. Es ist warm, die Luftfeuchtigkeit liegt bei rund 90 Prozent. Während Powell bereits bei 7,85 Metern landet, setzt der Titelverteidiger mit 8,68 Metern eine erste Duftmarke.
8,54 Meter, 8,29 Meter und ein Übertreten: Powell kommt in der Folge nicht an Lewis heran und muss dann mitansehen, wie sein Erzrivale auf 8,91 Meter springt und damit den Weltrekord von Bob Beamon um einen Zentimeter übertrifft. Lewis reisst die Arme hoch, er fordert die Massen auf, ihn zu feiern.
Als Weltrekord würden die 8,91 Meter nicht gelten, weil der Wind mit 2,9 Metern pro Sekunde dafür zu heftig blies. Doch Gold scheint Lewis sicher zu sein. Aber Powell glaubt weiter an seine Chance. «Leute, wenn ihr denkt, das war weit», sagt er sich in diesem Moment, «dann passt jetzt mal auf, ich zeig's euch!»
Nun nimmt Mike Powell zum fünften Mal Anlauf. Den Blick starr nach vorne gerichtet verzerrt er das Gesicht kurz zur Grimasse, bläst immer wieder die Backen auf, um die Luft dann ruckartig auszustossen. Der 1,88-m-Schlaks nimmt drei grosse Schritte und sprintet los.
Bei den letzten drei Schritten muss Powell etwas Geschwindigkeit herausnehmen, damit er nicht wieder übertritt. Er trifft den Balken haargenau und fliegt in zwei Metern Höhe bis fast zum Ende der Anlage. Der Sprung ist weit, unglaublich weit. Aber wie weit?
Es wird mucksmäuschenstill im Olympiastadion von Tokio. Powell hüpft aufgeregt herum und starrt auf die Anzeigetafel. Dann tauchen endlich die Zahlen auf: 8,95 Meter! 0,3 Meter Rückenwind pro Sekunde! Weltrekord! Powell rennt los, die Arme ausgestreckt, als wolle er von Gott den Segen für das soeben Geschaffte empfangen.
Doch noch hat Carl Lewis zwei Versuche. Mit 8,87 und 8,84 Metern scheitert er jedoch knapp – er ist am Boden zerstört. Die erhoffte One-Man-Show endet für ihn im totalen Desaster. Mit starrem Gesicht gratuliert er Powell, der in seiner Freude mit einem verdutzten japanischen Kampfrichter ein Tänzchen vollführt.
Konkurrenten, Publikum – alle gönnen dem Aussenseiter den Sieg. Nur einer nicht. «Er hat ja nur einen guten Sprung gehabt», moniert Lewis und zeigt sich als schlechter Verlierer. Erst später gibt er zu: «Es war die grösste Niederlage meiner Karriere.»
Das Duell der Duelle beschäftigt die Leichtathletik-Szene noch lange. Fieberhaft wird versucht herauszufinden, warum es ausgerechnet an diesem Tag zu einer derartigen Serie von weiten Sprüngen gekommen ist. Anders als bei Beamons Rekord können ein zu hoher Rückenwind und auch ein Fehler an der Weitenmessanlage ausgeschlossen werden.
So fällt der Verdacht auf ein zu elastisches Absprungbrett. Das lässt sich aber nicht mehr eindeutig prüfen. Was bei den Untersuchungen aber herauskommt: Die Anlaufbahn in Tokio ist aussergewöhnlich elastisch – ihr Belag würde heute nicht mehr den Vorschriften der IAAF entsprechen.
Powell darf das egal sein. Er wird über Nacht zum grossen Helden. «Der Weltrekord hat mein Leben verändert», sagt er später. «Vorher kannte mich kaum einer, seither die ganze Welt.» 1992 springt Powell in Sestriere 8,99 Meter weit, allerdings bei irregulären Bedingungen, 1993 in Stuttgart verteidigt er seinen WM-Titel.
Doch Lewis schlägt zurück. Bei Olympia 1992 in Barcelona distanziert er seinen angeschlagenen Dauerrivalen um drei Zentimeter und holt Gold. Auch 1996 in Atlanta triumphiert «King Carl» und Powell wird da gar nur Fünfter.
Nach dieser Schlappe tritt er zurück, doch 2001 wagt er ein Comeback. Powell will sich für die Olympischen Spielen 2004 in Athen qualifizieren, was ihm aber nicht gelingt. Und so bleibt Mike Powell vor allem wegen dieser einen epischen Nacht in Tokio in Erinnerung. Sein Weltrekord ist nun schon seit 29 Jahren gültig, er existiert mittlerweile länger als derjenige von Bob Beamon, der ja bereits als nicht zu übertreffen galt.
Ob Powells 8,95 Meter jemals übertroffen werden? Die Anwort auf diese Frage liefert er gleich selbst: «Kein Weltrekord ist für die Ewigkeit». Und er fügt an: «Bis 9,15 Meter ist alles möglich.» Bis anhin hat aber kein Weitspringer auch nur annähernd an seiner Bestmarke gekratzt.
Es ist schade macht man einen einfachen Sport umtragbar.