Gegen das Ende eines Jahres wird jeweils von Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern «das Wort des Jahres» gekürt. Auf den Sprachthron schaffte es diesmal der Begriff «Unterschriften-Bschiss». Ein Wort mit einer politischen Botschaft.
Es gäbe eine Alternative: «Alleingeburt». Viele Frauen aus alternativen Szenen wollen sich bei der Niederkunft «emanzipieren», also selbstbestimmt und würdevoll gebären. Frei nach dem Motto: Mein Bauch, die Geburt und mein Baby gehören mir.
Bei diesem Akt haben in ihren Augen weder Hebammen noch Gynäkologen etwas zu suchen. Nichts da mit Spitalgroove, medizinischen Geräten und Medikamenten. Natur pur. Schliesslich ist die Geburt das Natürlichste der Welt. Behaupten sie.
Die radikale Idee ging in letzter Zeit viral und fand viele Anhängerinnen, die sich der Freebirth-Community anschlossen. Die Verklärung der natürlichen Geburt ohne fremde Hilfe nahm pseudoreligiöse Züge an.
Urmutter der Bewegung ist die 38-jährige Deutsche Josy Peukert. Sie brachte ihren Sohn an einem verlassenen Strand in Nicaragua zur Welt, quasi bei einer Wassergeburt am seichten Meeresufer. Das Video ihrer Geburt postete sie auf Instagram. Sie wurde zur erfolgreichen Influencerin für einsame Rituale bei der Niederkunft. Das Video wurde 250‘000 mal angeschaut. Nun bietet Peukert Online-Kurse für Alleingeburte an – gegen Gebühren, versteht sich.
Peukert kritisiert das «System Krankenhaus» grundsätzlich, wie sie gegenüber Journalistinnen des deutschen Senders SWR berichtete. Die Notfälle bei Geburten seien nicht medizinisch begründet, sondern liessen sich auf «Sabotage, Manipulation und eine Interventionskaskade» zurückführen, behauptete sie. Fragt sich nur, woher sie das wissen will, wenn sie die Spitäler aus ideologischer oder esoterischer Überzeugung meidet.
Damit formuliert sie ihren Unmut gegenüber der Schulmedizin noch sanft. Andere Anhängerinnen der Freebirth-Szene vergleichen die vaginale Untersuchung mit Vergewaltigungen oder den Dammschnitt mit «westlicher Genitalverstümmelung». Vielleicht müssen diese Frauen die Verstümmelung besser in ihrem Hirn oder Bewusstsein suchen. Schliesslich können bei diesen Untersuchungen immer wieder gefährliche Krankheiten wie Krebs frühzeitig erkannt und erfolgreich therapiert werden.
Die Frauen werten die Alleingeburt als Akt der Selbstbestimmung und verteufeln die Gesundheitspolitik. Als Feind der natürlichen Lebensweise haben sie die wissenschaftsbasierte Medizin ausgemacht.
Wie bei der verhassten Medizin und Pharmaindustrie verfolgt auch die Freebirth-Community wirtschaftliche Prinzipien. Frei nach der Losung: «Wo die Nachfrage steigt, wächst auch das Angebot». So werden unter anderem Birthkeeper-Kurse für 5000 Franken angeboten.
In einem Podcast sprach die SRF-Journalistin Vanessa Ledergeber mit Schweizer Frauen der Freebirth-Szene. Sue Strack verzichtete beispielsweis bei der Schwangerschaft ihres zweiten Kindes auf alle medizinischen Untersuchungen und brachte schliesslich ihre Tochter allein zur Welt. Das wollte sie schon beim ersten Kind, doch das Abenteuer endete mit einem Not-Kaiserschnitt im Spital.
Statt den Ärztinnen, die ihr und möglicherweise dem Kind das Leben gerettet haben, dankbar zu sein, warf sie ihnen vor, bei ihr ein Trauma ausgelöst zu haben. In der Schweiz kommen bis zu einem Drittel der Kinder mit Kaiserschnitt zur Welt. Ohne traumatisiert zu werden. Man bedenke: Verblendung kann psychotische Reaktionen auslösen.
Frauen, die die Alleingeburt praktizieren, werden von der Szene bejubelt und wie Heldinnen gefeiert. Dabei degradieren sie die Samenspender zu Statisten, die sie bei bei dem «heiligen Akt» verbannen. Ein Hinweis auf das seltsame Männerbild, das die Alleingebärerinnen offensichtlich pflegen. Schliesslich gehört die Geburt auch für Väter zu den schönsten Erlebnissen. Wenn es später allenfalls um Alimente geht, stehen die Väter ganz oben in der Aufmerksamkeitsliste.
Man fragt sich als verwunderter Beobachter, weshalb auch Hebammen für Alleingebärerinnen ein Störfaktor sind. Sie sind doch auch Frauen und handeln als Komplizinnen der Schwangeren. Ausserdem haben sie viel Erfahrungen und können Notfälle rasch erkennen.
Man könnte die Freebirth-Szene nüchtern betrachten und sarkastisch erklären: Wenn die Frauen bereit sind, bei der Geburt zu sterben, ist dies ihr freier Wille. Doch sie gefährden auch das Leben des Kindes, das kein Mitspracherecht hat. Somit ist eine Alleingeburt ein egoistisches Projekt. Sollte ein Kind dabei sterben, könnte man es als vorsätzliche Tötung taxieren. Denn die Zahlen der WHO zeigen eindeutig, dass es bei Spitalgeburten seltener zu Todesfällen kommt als bei Hausgeburten. Selbst wenn Hebammen dabei sind.
Wie setzt sich die Freebirth-Community zusammen? Untersuchungen dazu gibt es nicht. Doch Erfahrungsberichte und Kommentare bei den Plattformen zeigen, dass es sich um eine hetrogene Bewegung handelt. Sie erinnert stark an die Corona-Skeptiker-Szene.
Hauptvoraussetzung ist ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber der traditionellen Medizin. Im Vordergrund stehen also Anhängerinnen der Alternativmedizin, Impfskeptikerinnen und esoterisch angehauchte Frauen. Zu den Alleingebärerinnen gehören auch Frauen, die den Staat ablehnen und zu Verschwörungsideen neigen.
Auf den einschlägigen Internet-Plattformen sind auch Anhänger der Reichsbürger unterwegs, die den Umsturz des Staates herbeisehnen und ihn teilweise aktiv planen. Auch die radikale Anastasia-Bewegung, die krude esoterische, spirituelle und politische Ideen verbreitet, versucht Einfluss auf die Frauen zu nehmen, die die Alleingeburt als Pfeiler ihrer Weltanschauung hochstilisieren.
Und schon sind wir tief im Sektenmilieu angelangt.