Seit Wochen drängt die russische Armee in Richtung Pokrowsk. Die Stadt in der Ostukraine, die vor dem Krieg rund 60’000 Menschen eine Heimat war, gilt als strategisch wichtiger Knotenpunkt. Und während Russland langsam, aber stetig vorrückt, richtet die ukrainische Armee Verteidigungsanlagen ein. Erwartet wird eine fürchterliche Abnützungsschlacht.
Nun stehen die ersten russischen Einheiten vor den Toren der Stadt. Wer konnte, ist längst geflohen. Die Möglichkeit dazu hatten aber nicht alle. Laut Verwaltung leben noch immer 11’500 Menschen in der Stadt. Und deshalb ging der Schweizer Markus Hebeisen* den umgekehrten Weg. Seit September 2024 hält er sich in Pokrowsk auf.
*Name der Redaktion bekannt. Um seine Sicherheit nicht weiter zu gefährden, verwenden wir hier ein Pseudonym.
Herr Hebeisen, weshalb sind Sie in Pokrowsk?
Markus Hebeisen: Mich brachte eine Verkettung von verschiedenen Ereignissen hierhin – aber grundsätzlich möchte ich einfach den Menschen hier helfen.
Ist die Ukraine damit überfordert?
Ich weiss es nicht. Man hört dies nicht so gerne in der Schweiz, aber meine Beobachtung ist folgende: Solange westliche Journalisten vor Ort sind, wird evakuiert und geholfen. Ziehen die Journalisten weiter, verschwinden auch die Helfer. Zurück bleiben die Alten, die Betagten, die Armen und Nichtmobilen. Im Block, in dem ich lebe, ist etwa die Hälfte aller Wohnungen noch bewohnt. Vor allem von älteren und auch pflegebedürftigen Menschen. Wo wollen die hin? Sie haben kein Geld und niemanden, der ihnen hilft. Mit umgerechnet 200 Euro Rente kriegt man in Dnipro, Odessa oder Mykolajiw keine Wohnung. Die Leute sind der Situation komplett ausgeliefert. Sie können nicht weg.
Aber warum haben die Leute hier so wenig Geld? Warum geht es ihnen so dreckig? Könnte es sein, dass hier die ukrainische Regierung in den letzten 20 Jahren etwas verschlampt hat?
Laut Stadtverwaltung leben in Pokrowsk noch 11’500 Menschen – und keine Kinder mehr. Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht stimmt. Ich würde schätzen, es sind wesentlich mehr Leute – und leider hat es auch Kinder. Ich habe einige mit eigenen Augen gesehen.
Was ist mit den NGOs?
Die grossen NGOs mit Millionenbudgets sind nicht mehr hier. Die wursteln in Kiew rum, obwohl man dort 23,5 Stunden am Tag warm duschen, chic essen, ins Kino oder in den Nachtclub gehen kann. Wie in Bern oder Zürich. Der Unterschied zur Ostukraine ist gewaltig. Aber jemand muss auch hier den Job erledigen. Vor Ort.
Wie sieht Ihre Hilfe konkret aus?
Aktuell verteile ich Hilfsgüter, Dinge, die den Leuten hier das Leben in den kommenden Wochen erleichtern können: Heizöfen zum Beispiel oder Decken.
Sie sprechen in der Mehrzahl?
Ja. Ich bin mittlerweile vernetzt. Das brachte mich auch nach Pokrowsk.
Erzählen Sie.
Im Februar war ich in Selydowe, als die Russen die Stadt bombardierten. Damals traf es auch das Krankenhaus. Im Mai oder Juni gehörte ich dann zu einem Team, welches das Spital evakuierte, die Geräte und Apparate in Lastwagen verlud und wegschaffte. Ich weiss noch, wie wir am Abend zuvor alle zusammen, vielleicht sieben oder acht Leute, in der ehemaligen Chirurgie sassen, eine Wodkaflasche herumreichten und über alles, Gott und die Welt, aber einfach nicht über diesen Krieg sprachen. Dieser Abend wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Und so kommt man halt in Kontakt. Als dann die Front Pokrowsk immer näher kam, erhielt ich eine Liste mit ehemaligen Patienten aus Selydowe, die sich möglicherweise noch immer in der Region aufhielten. Und deshalb ging ich dahin – um die Leute da herauszuholen, die selbst dazu nicht fähig waren.
Und ist Ihnen das gelungen?
Ja, mithilfe von Taxifahrern aus Kramatorsk. Die Leute sind nun in Odessa und Europa. Geschafft haben wir das nur dank unzähliger Menschen, die mir im Hintergrund helfen – Ukrainer und Ausländer.
Wer bezahlt Ihre Arbeit?
Früher arbeitete ich für ein Hilfswerk, heute finanziere ich mich selbst. Mit meinem Ersparten.
Wie muss man sich Ihren Tagesablauf vorstellen?
Raus kann man hier nur zwischen 11.00 und 15.00 Uhr. Sonst ist Ausgangssperre. Den Tag beginne ich deshalb mit Lesen, Organisieren, Informieren, YouTube. Dann gehe ich raus zur Post. Dort nehmen wir die eingetroffenen Waren in Empfang. Aus Sicherheitsgründen verschieben wir die dann in verschiedene Wohnungen. Jeden zweiten Tag verteilen wir die Sachen. Vieles hängt vom Wetter und der Sicherheitslage ab. Bei Nebel gehen wir nicht raus. Dann ist es zu gefährlich. Russland fliegt Drohneneinsätze auf Zivilisten. Und bei Nebel siehst du die zu spät. Deine einzige Chance sind dann die streunenden Hunde.
Die streunenden Hunde?
Wenn die nervös werden und bellen, dauert es in der Regel nicht lange und es passiert etwas.
Wie geht es mit Ihrem Tag weiter?
Spätestens um 15.00 Uhr versuche ich, wieder in der Wohnung zu sein. Sobald es dunkel ist, wird es ungemütlich in der Stadt. Dann weiss man nie, was für Gestalten einem begegnen. Leider gibt es nicht nur auf der anderen Seite der Front Verbrecher. Ab 16.00 Uhr ist es dann stockdunkel. Dann vertreibe ich mir die Zeit wieder mit YouTube, mit Internet, ich lese viel, auch watson. Um 18.00 gehe ich ins Bett. Russland beschiesst in der Regel in der Nacht. Dann kann man eh nicht mehr schlafen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als einfach auf den nächsten Tag zu warten.
Strom und Internet haben Sie. Was ist mit warmem Wasser?
Ich habe kein Thermometer, aber in meiner Wohnung ist es bitterkalt. Die Kälte frisst sich durch die Ritzen und ich trage drinnen stets mehrere Paar Socken und mindestens zwei Pullover. Einmal pro Woche gibt es warmes Wasser. Dann kann ich für ca. zwei Minuten warm duschen. Am schönsten ist, wenn ich am Morgen die aufgewärmten Socken von der Heizung nehmen kann und danach für ein paar Minuten heisse Füsse habe. Das ist Luxus.
Im Hintergrund ertönen Knack-Geräusche.
Haben Sie das gehört?
Explosionsgeräusche.
Ich muss das hier abbrechen. Ich muss raus hier.
Fünf Minuten später erhalten wir Fotos von Hebeisens Wohnung. Die Druckwelle einer Explosion hat zwei Fenster mitsamt Rahmen in die Wohnung gepresst. Wie ein Wunder blieben die Scheiben intakt. Nur eine halbe Stunde später montieren zwei Arbeiter die Fenster ein, drei Stunden später nehmen wir unser Gespräch erneut auf.
Herr Hebeisen, ist bei Ihnen alles okay? Sind die Fenster wieder montiert?
Ja. Bei mir sind die Fenster wieder drin, der Strom geht, Internet habe ich auch. So weit, so gut.
Wann verlassen Sie Pokrowsk?
Ich wollte eigentlich letzten Freitag raus. Doch dann wurde mir eine grosse Deckenlieferung versprochen. Die will ich noch verteilen. Deshalb bin ich noch hier – und weil es nicht ganz so einfach ist, wegzukommen. Nächsten Freitag (6.12.2024) aber gehe ich wirklich. Ich habe das Busticket bereits gekauft.
Wie reagiert Ihr Umfeld darauf, dass Sie hier sind? Ihre Geschwister und Verwandten?
Meine Geschwister leben ihr eigenes Leben – wir sind alle erwachsen und gehen unsere eigenen, sehr unterschiedlichen Wege. Aber die wissen genau, wie ich ticke. Die wissen, dass sie mich sowieso nicht davon abhalten können. Freunde habe ich in der Schweiz nur noch sehr wenige. Seit ich erwachsen bin, war ich oft im Ausland. Mit 18 ging ich in die USA. Danach für 13 Jahre in den Globalen Süden. Als ich zurück in die Schweiz kam, empfand ich die hiesige Bürokultur als extrem beklemmend und einengend. Ich hatte Mühe, mich hier zu integrieren und wohlzufühlen. Deshalb ging ich wieder ins Ausland und lernte dort ab 2018 immer mehr Ukrainer kennen. Als Russland einmarschierte, begannen wir auf privater Basis Hilfsgüter, zuerst vorwiegend Dieselgeneratoren, zu verteilen. Und so führte das eine zum anderen.
Aber Sie gehen ein hohes Risiko ein.
Die Direktorin einer NGO hat mir mal erklärt, dass es eine rote Linie gibt, hinter der man sich nicht mehr richtig spürt, hinter der man nicht mehr richtig einschätzen kann, wann man aufhören sollte, wann genug ist.
Wenn ich ehrlich bin, weiss ich nicht, ob ich die Linie bereits überschritten habe. Ich war schon ein Dutzend Mal unter Beschuss. Irgendwann ist es dann halt auch eine Frage der Wahrscheinlichkeit, dass man getroffen wird. Heute Morgen fehlten nur rund zweihundert Meter.
Sie nehmen Verletzungen oder gar Ihren Tod in Kauf.
Vor vier, fünf Monaten war ich noch nicht an dem Punkt. Seit ich mich immer näher an die Front bewege, gehört die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod aber zum Alltag ... vielleicht bin ich auch ein bisschen süchtig danach. Aber ich sterbe lieber hier in der Ukraine, während ich etwas tue, woran ich glaube, als dass ich in der Schweiz in einem Office hinter einem Bildschirm verrotte.
Süchtig?
Ja. Das Gefühl, dass ich hier wirklich einen Unterschied bewirken kann, löst in mir enorm viel aus. Dieses Gefühl ist im Moment noch stärker als das Bedürfnis, mich in Sicherheit zu bringen. Wenn ich am Freitag gehe, dann wird es mir enorm leidtun für die Leute, die hier zurückgelassen werden. Die Empathielosigkeit gegenüber den Zurückgelassenen ist es auch, die mich dermassen wütend macht. Zum Beispiel auch in euren Kommentarspalten.
Was meinen Sie konkret damit?
All die Leute, die immer nach noch mehr Waffen und Rückeroberung schreien, wissen gar nicht, was das bedeutet. Mal abgesehen davon, dass der Ukraine dafür ohnehin das Personal fehlt. Als Russland einmarschierte, nahm es grosse Gebiete praktisch widerstandslos ein. In diesen leben heute ca. drei Millionen Ukrainer. Leben sie gut? Soweit ich das beurteilen kann, nicht viel schlechter als zuvor. Eine Rückeroberung würde bedeuten, diese Leute zu beschiessen – anders lassen sich die Russen nicht vertreiben. Wie viele Zivilpersonen würden dabei sterben? Ich bin kein Militärexperte, aber sind es 100’000? 200’000? Eine halbe Million? Dass die Ukraine bei einer Rückeroberung die eigenen Leute beschiessen muss, die sich notabene in grossen Teilen tatsächlich Russland zugehörig fühlen, wird in der Berichterstattung im Westen oft einfach herausgestrichen. Auch bei watson habe ich dazu noch nie einen Artikel gelesen. Finden Sie das nicht krass? Die Schuldfrage müssen wir dabei nicht diskutieren. Ohne Russland würden die Leute heute nicht in der Scheisse stecken. Aber die Schuldfrage rückt sehr schnell in den Hintergrund, wenn die ersten Bomben fallen. Dann geht es nur noch ums Überleben. Glauben Sie mir, da wird man dann ganz schnell ziemlich pragmatisch.
Aber ein russischer Durchmarsch kann es ja auch nicht sein?
Nein. Aber sich der Illusion hinzugeben, jeder Ukrainer sei bereit, sich heldenmutig fürs Vaterland zu opfern, ist naiv und kreuzfalsch.
Ist die Bevölkerung gespalten?
Es gibt halt sehr verschiedene Meinungen. Der Vater einer Kollegin wurde umgebracht, ihr Haus und ihr Vermögen zerstört. Sie will jeden Russen tot sehen. Solche Ukrainerinnen und Ukrainer gibt es. Doch es gibt auch das Gegenteil. Gerade in der Ostukraine gibt es viele Leute, die sich Russland zugehörig fühlen. Ich kenne einen alten Mann hier, Jahrgang 1927. Er hat noch für die Russen im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland gekämpft. Der hasst nun beide Seiten dafür, dass sie sich bekriegen.
Beim Referendum damals stimmten auch in der Ostukraine über 80 Prozent für die Unabhängigkeit.
Das ist richtig. In Friedenszeiten ist es einfach, Ukrainer zu sein. Aber viele hier fühlen sich von der Regierung nicht genügend unterstützt. Und wenn dann halt die Russen kommen, und die sich auch nur einen Deut mehr kümmern, dann singt man halt deren Lied. Das Leben und die Situation hier sind nicht schwarz-weiss. Es ist eine graue Suppe. Und ein pragmatischer Opportunismus hilft, zu überleben. Ich habe absolutes Verständnis dafür. Zu glauben, jeder Ukrainer wolle für sein Vaterland sterben, ist einfach nur naiv. Krieg hat wenig Heldenhaftes. Krieg ist einfach nur scheisse. Aber wenn man das dann in der Schweiz erzählt und nicht haargenau ins selbe Horn stösst wie alle anderen, wird man von anonymen Schreibtischtätern sogleich als Putin-Troll diffamiert. Von Leuten, die selbst noch nie einen Fuss in die Ukraine setzten, von Leuten, die nichts mit den eigenen Augen gesehen haben. Nichts. Die nicht bereits an dutzenden Beerdigungen waren.
Aber wissen Sie was: Gewissermassen verstehe ich diese Leute auch. Mit einem solchen Schwarz-Weiss-Denken schläft es sich vermutlich ruhiger.
Wie soll es weitergehen?
Ich weiss es nicht. Ich sehe keine Möglichkeit, dass eine der Parteien mit erhobenem Haupt aus der Sache herauskommt. Es ist einfach nur schrecklich.
Wie geht es mit Ihnen weiter?
Morgen bin ich hier weg. Es wird mir unendlich leidtun, die Leute hier zurückzulassen. Zum Beispiel meine Vermieterin, die nur aufgrund ihres betagten Vaters noch hier ist. Sie hat alles für mich getan: gekocht, geputzt, mein Blut weggewischt … aber sie sagt, ihr werde schon nichts geschehen.
Bleiben Sie in der Ukraine?
Ich weiss es noch nicht. Ich sollte mal in die Schweiz kommen, um meine Blessuren zu behandeln. Aber einer meiner besten Kollegen hier hat eine neue Arbeitsstelle gefunden. Vielleicht heuere ich dort an. Mal gucken. Ich plane nicht – ich lebte schon immer sehr spontan. Von Tag zu Tag.
Einen Tag nach diesem Gespräch informiert uns Markus Hebeisen, dass bei einem Raketenangriff auf Pokrowsk ein drei Monate altes Baby verletzt wurde. Mittlerweile wurde sein Internet abgeschaltet und man rechnet mit intensiverem Beschuss der Stadt. Markus Hebeisen verliess Pokrowsk planmässig am Freitagmorgen bei eisiger Kälte per Bus.
Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht alles schwarz weiss ist, sondern auch viele Graustufen existieren. Zudem ist es einfach, aus der warmen und sicheren Stube in der Schweiz die Vorkommnisse in einem entfernten Land zu kommentieren.