Vor seinem ersten Spiel als Trainer der Schweizer Nationalmannschaft leistet sich Gilbert Gress einen Fauxpas, über den in Fussballkreisen bis heute oft und gerne gelacht wird.
Als der damals 56-Jährige daheim in St. Blaise seine Siebensachen packt, um sich auf den Weg nach Bern zu machen, steckt Gress auch sein Handy ein. Zumindest meint er das. Erst am Zielort merkt er, dass er gehörig daneben gegriffen hat: «Ich habe die Fernbedienung mitgenommen. Meine Frau muss jetzt immer aufstehen, wenn sie den Sender wechseln will.»
Doch vor dem Freundschaftsspiel gegen England ist diese Episode bei weitem nicht das grösste Problem des Nachfolgers von Rolf Fringer. Der grosse Abwesende, Kubilay Türkyilmaz, dominiert vor dem geplanten Neubeginn nach der verpatzen Quali für die WM 1998 landesweit die Schlagzeilen.
Drei Tage vor dem Spiel meldet sich der GC-Stürmer bei Gress wegen einer Verletzung ab. Sein Klub-Arzt Heinz Bühlmann übermittelt den Kollegen von der Nationalmannschaft den Befund eines Muskelfaserrisses an der rechten Wade.
Nati-Doc Roland Biedert will sich selbst ein Bild von der Verletzung machen und bietet Türkyilmaz zu einer Untersuchung auf. Aber der Goalgetter lässt den Termin einfach sausen und schaut stattdessen noch einmal beim GC-Arzt vorbei. Der findet nun plötzlich doch keinen Riss mehr in der Wade. Ist Türkyilmaz ein Simulant? Hatte er einfach keine Lust auf den Testkick im verschneiten Bern? Die Gerüchteküche brodelt.
Ohne Türkyilmaz baut Gilbert Gress bei seiner Premiere vor allem auf die Qualitäten von Murat Yakin und Ciriaco Sforza. Der Elsässer stellt das System von 4-3-3 um auf ein 3-4-3. Der 23-jährige Yakin, der in Stuttgart gerade mitten in einem Machtkampf mit Superstar Krassimir Balakov steckt, soll den Libero mit Offensivdrang geben. Den angeschlagenen Kaiserslautern-Regisseur Sforza ernennt Gress wieder zum Captain. Ihm denkt er die Rolle als zentrale Schaltstation im Mittelfeld zu.
Ausserdem nimmt der kauzige Fussballehrer eine Rochade auf der Goalie-Position vor. Sein Lieblingsspieler Joël Corminboeuf, auf den er bereits als Klubtrainer bei Strassburg und Xamax zählte, steht anstelle von Stephan Lehmann zwischen die Pfosten. Seinen letzten Einsatz für die Schweiz hat der 34-Jährige vor zehn Jahren absolviert. Mit dieser Entscheidung bringt sich Gress wohl um einen historischen Sieg gegen die Engländer.
Denn die «Three Lions» treten in Bern mit einer Rumpftruppe an. Die Liste der Abwesenden ist lang: Paul Gascoigne, Ian Wright und David Seaman stehen gar nie im Aufgebot des englischen Coaches Glenn Hoddle. Stars wie David Beckham, Paul Scholes, Andy Cole und Tony Adams haben – wie Türkyilmaz – kurzfristig abgesagt.
So gehen die Schweizer gegen die harmlosen Briten fünf Minuten vor der Pause durch ein Kopftor von Ramon Vega in Führung. Es winkt der vierte Sieg nach 1938, 1947 und 1981. Nachdem sich seine Vorgänger Rolf Fringer (0:1 gegen Aserbaidschan) und Artur Jorge (1:1 gegen Luxemburg) bei ihrem Amtsantritt jeweils blamiert haben, schnuppert der Elsässer an einer Sensation.
Die versaut dann ausgerechnet jener Joël Corminboeuf, dem Gress zum Nati-Comeback verholfen hat. Nach einem Rückpass von Murat Yakin schlägt er den Ball völlig unbedrängt in die Füsse von Alan Shearer, der anschliessend Paul Merson mit einem schönen Pass lanciert. Dessen Abschluss ist weder gefährlich noch platziert – und trotzdem kann Pechvogel Corminboeuf den Ball nicht parieren. 1:1, aus der Traum!
Gilbert Gress nimmt seinen Schützling nach dem Spiel in Schutz: «Es war ein schwieriger Match für ihn. Er wurde kaum beschäftigt und macht dann einen Fehler bei der ersten Chance des Gegners. Sowas kann passieren. Mit dem Resultat bin ich trotzdem zufrieden.»
Diesen Satz kann der neue Nationaltrainer in den kommenden Monaten nicht oft genug sagen. Nach Niederlagen gegen Dänemark und Italien verpassen die Schweizer die Qualifikation für die EM-Endrunde 2000 in Belgien und Holland. Gilbert Gress muss seine Koffer packen und heuert beim FC Zürich an.
Den vergebenen Sieg gegen England hat die Schweiz bis heute nicht nachgeholt. Zumindest die SRF-Zuschauer dürften Joël Corminboeuf für seinen fatalen Patzer aber dankbar sein. Ohne ihn hätte der ehemalige TV-Experte Gress wohl bei jedem zweiten Plausch mit Rainer Maria Salzgeber daran erinnert, wie er damals die Engländer im Alleingang vom Sockel gestossen hatte.