Die Anwärter auf den Gesamtsieg an der Tour de France bereiten sich traditionellerweise eher am Critérium du Dauphiné auf das wichtigste Happening des Radsports vor als an der Tour de Suisse. Dieses Jahr fehlt an der Schweizer Rundfahrt, immerhin die viertgrösste Rundfahrt der Welt, aber auch ein grosser Teil der zweiten Garde.
So zogen zum Beispiel alle drei Fahrer, die letztes Jahr auf dem Podest standen, den Dauphiné dem neuntägigen Rennen durch die Schweiz vor. Der Portugiese Rui Costa, der die Tour de Suisse zuletzt dreimal in Serie gewonnen hatte, der Holländer Bauke Mollema (Zweiter 2013, Dritter 2014) und Mathias Frank, der in den letzten beiden Jahren jeweils bestklassierte Schweizer (Fünfter 2013, Zweiter 2014), sind alle drei nicht dabei.
Das Fernbleiben des Trios sorgt für eine spannende Ausgangslage im Kampf um den Gesamtsieg. Auf dem Papier sind Thibaut Pinot, der Dritte der Tour de France 2014, und Rafal Majka, zweifacher Etappensieger an der letzten Frankreich-Rundfahrt, die Favoriten. Es ist jedoch gut möglich, dass das Duo nicht auf Sieg fährt, sondern die Tour de Suisse nur zum «Einrollen» für die Tour de France bestreitet. Zum grossen Kreis der Favoriten zählen auch Fahrer wie Weltmeister Michal Kwiatkowski (Polen), Jakob Fuglsang (Dänemark) oder Robert Gesink (Holland).
Während die Rundfahrten-Spezialisten durch Abwesenheit glänzen, ist die Gilde der Sprinter und Klassiker-Spezialisten ausgezeichnet vertreten. Ex-Weltmeister Mark Cavendish (Grossbritannien), der diesjährige Seriensieger Alexander Kristoff (Norwegen), der Mailand-Sanremo- und Paris-Roubaix-Gewinner John Degenkolb (Deutschland), Peter Sagan (Slowakei) und Michael Matthews (Australien) dürften sich um Erfolge in den Sprint-Etappen streiten. Ausreisser dürften es in diesem Jahr schwer haben.
Das Fehlen von Frank, dessen Saisonvorbereitung ganz auf die Tour de France ausgerichtet ist, schmälert auch die Chancen der Schweizer auf eine Top-Klassierung im Gesamtklassement. Frank ist im Moment der einzige Schweizer, dem ein Sieg in einer grösseren Rundfahrt zugetraut wird. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Fabian Cancellara der letzte Schweizer Gesamtsieger (2009) bleibt.
Statt Frank führt dieses Jahr Sébastien Reichenbach das Schweizer IAM-Team im Kampf um den Gesamtsieg an. Der 26-jährige Walliser hatte den Giro als Leader seiner Equipe wegen Magenproblemen aufgeben müssen und möchte sich nun in der Schweiz rehabilitieren. IAM stellt mit drei Einheimischen wenig überraschend das grösste Kontingent an Schweizern.
Insgesamt ist die Schweizer Delegation aber eher klein. Auf der Startliste figurieren nur neun Einheimische und damit deutlich weniger als im Vorjahr (16). Nebst Frank fehlt auch BMC-Neoprofi Stefan Küng, für den die Saison nach seinem schweren Sturz am Giro d'Italia bereits vorbei ist.
Die grössten Trümpfe dürften nun Michael Albasini, der an der Tour de Romandie mit zwei Tageserfolgen brilliert hat, und Fabian Cancellara sein. Der Berner Zeitfahr-Olympiasieger ist für die Tour de Suisse auch in diesem Jahr das Zugpferd. Der Berner, der auch persönlich beim neuen Vermarkter Infront Ringier unter Vertrag steht, litt indes in dieser Woche an einem Infekt und gab erst gestern bekannt, dass er tatsächlich starten kann.
Bereits fünfmal (letztmals 2011) gewann der «Spartacus» den Prolog, respektive die 1. Etappe. Sollte er erneut gewinnen, wäre es Cancellaras elfter Etappensieg an der Tour de Suisse. Er würde damit die Rekordmarke von Hugo Koblet und Ferdy Kübler von je elf Tagessiegen egalisieren.
Infront Ringier setzt bei seiner ersten Tour auf ein neues Konzept. Mit zwei «Hubs» an den beiden Wochenenden, zum Start in der Region Zug und zum Abschluss in der Stadt Bern, und attraktiven Rundstrecken-Etappen sollen mehr Zuschauer angelockt werden. Die Königsetappe führt dieses Jahr nach Österreich zum Rettenbachgletscher oberhalb von Sölden.
Nach Plan verlief im Vorfeld für die Organisatoren aber nicht alles. Wegen des Felssturzes in der Schöllenenschlucht musste die 3. Etappe nach Olivone TI verkürzt werden. Statt in Brunnen, das auf den Start verzichtete, beginnt das Teilstück nun in Quinto. Der Gotthardpass wird trotzdem befahren: Es geht von Süden her dia alte Tremola-Strasse hoch und auf der regulären Passstrasse wieder nach Airolo hinunter. Insgesamt haben die Radprofis nun 1262,6 km zu absolvieren. (ram/si)