Es ist ein nebliger Oktoberabend im Wallis. Im Sittener Stade de Tourbillon läuft die dritte Minute der Nachspielzeit des NLA-Spiels zwischen dem FC Sion und dem FC Wettingen, der trotz europäischem Höhenflug gegen den FC Neapel in finanziellen Schwierigkeiten steckt und gegen den Abstieg kämpft. Dank eines Treffers von Mirsad Baljic in der 88. Minute führen die Walliser mit 1:0, als sich eine der meist diskutierten Szenen im Schweizer Fussball ereignet.
Sions Jean-Paul Brigger kann nur ein paar Meter vom eigenen Strafraum einen Entlastungsfreistoss treten. Doch statt den Ball weit nach vorne zu schlagen, verzögert er die Ausführung und trifft schliesslich den Rücken von Wettingens Salvatore Romano. Von dort prallt das Leder vor die Füsse von Teamkollege Martin Rueda, der nicht lange fackelt und mit einem Lob über Sion-Keeper Stephan Lehmann zum 1:1 trifft.
Doch Rueda und die Wettinger haben die Rechnung ohne Schiedsrichter Bruno Klötzli gemacht. Der Unparteiische sieht – als der Ball noch in der Luft ist – auf seiner Uhr, dass die dreiminütige Nachspielzeit abgelaufen ist und pfeift die Partie ab. Den Ausgleich gibt er nicht mehr.
Die Wettinger sind fassungslos und wollen ihre Wut an Klötzli auslassen. Plötzlich laufen sie Amok: Wie ein aufgescheuchtes Tier hetzen sie den Ref über den Rasen des Tourbillons. Als sie ihn einholen, setzt es Fusstritte und Faustschläge ab. Die Hände schützend vor dem Gesicht schafft Klötzli schliesslich die Flucht in die Katakomben des Stadions.
«Ich hatte grosse Angst», sagt Klötzli nach dem Skandal-Spiel. «Wenn ich gestolpert wäre, wäre ich mit Sicherheit im Krankenhaus gelandet.» So kommt er aber unverletzt davon. Zu seinem Pfiff sagt er: «Regeltechnisch habe ich keinen Fehler gemacht. Aber ich muss schon zugeben, dass der Moment des Abpfiffs psychologisch nicht gerade gut gewählt war.»
Klötzli meldet den Fall dem SFV und seine Ausführungen haben es in sich. Seinem Rapport ist zu entnehmen,
Während die Bilder vom «Fall Klötzli» um die Welt gehen, steht die Fussball-Schweiz unter Schock. Solche Wild-West-Szenen, wie sie sich in Sion ereignet haben, kennt man hierzulande höchstens aus dem Fernsehen. Aus Südamerika oder Mexiko. Alle wissen: Das wird Konsequenzen haben.
Nur die vier Wettinger Spieler scheinen nicht zu ahnen, was auf sie zukommt. Am Tag nach dem Spiel gehen sie mit den «Blick»-Reportern, die den «Fall Klötzli» später mit 32 grösseren Geschichten zu einem Riesen-Skandal aufbauschen, auf einen Spaziergang und plaudern locker aus dem Nähkästchen.
«Sicher ich bin hingerannt», gesteht Kundert. «Viellicht habe ich im ganzen Getümmel drin den Schiedsrichter berührt. Aber ich habe ihn ganz bestimmt nicht getreten. Alles andere als zwei, drei Strafsonntage wären ein Skandal.» Baumgartner beschreibt die Situation so: «Ich war total aggressiv, zu allem fähig. Aber ich kam gar nicht ran.» Germann sagt: «Ich bin ganz sicher. Ich habe nicht zugeschlagen.»
Nachdem sie die Video-Bilder gesehen haben, sind sie einsichtiger. «Die Szenen, die sich da abgespielt haben, sind unentschuldbar», sagt Kundert. Baumgartner gibt zu bedenken, dass sowohl er wie auch Klötzli einen Fehler gemacht haben. Seine Freundin sieht bereits schwarz: «Muss ich mir jetzt eine Stelle suchen?», fragt sie halb schmunzelnd, halb nachdenklich.
Als der SFV die Urteile bekannt gibt, vergeht den Beteiligten das Lachen aber endgültig. Die vier Wettinger Spieler werden allesamt für mehrere Monate gesperrt und mit hohen Bussen belegt. Alex Germann, der auf dem Sprung in die Bundesliga zu Borussia Dortmund ist, trifft es am härtesten: ein Jahr Sperre und 20'000 Franken Busse.
«Unser grösster Fehler war, dass wir einen Tag nach dem Spiel mit der Boulevardpresse sprachen», sieht Baumgartner erst später ein. «Das war reinste Provokation. Die Wettinger Vereinsverantwortlichen hätten uns einen Maulkorb verpassen sollen. Denn nach diesen Interviews wurden wir von den Verbandsfunktionären wie Schwerverbrecher behandelt und dementsprechend auch bestraft.»
Der damals 30-jährige Frei macht seinem Ärger Luft, schreibt den Verbandsbossen einen scharfen Brief und entschliesst sich, die Karriere zu beenden. Kundert zieht sich sieben Wochen nach der Partie in Sion einen Kreuzbandriss zu. Weil das rechte Knie den Belastungen des Spitzensports nicht mehr standhält, beendet er im Frühling 1990 seine Laufbahn.
Baumgartner setzt seine Karriere beim FC Basel fort, spielt noch vier Jahre in der NLB und wird später Beach-Soccer-Profi. Germann trainiert ein Jahr beim FC Wettingen und steigt danach wieder ein, der Wechsel in die Bundesliga kommt aber nicht mehr zu Stande. «Diese Sperre war ein markanter Einschnitt in meine Karriere», muss Germann eingestehen.
Ein halbes Jahr später hängt auch Schiedsrichter Klötzli seine Pfeife an den Nagel. Das Skandalspiel von Sion ist sein letztes auf der höchsten Stufe. Doch es kommt noch schlimmer: Der Amateur-Schiedsrichter, der für 400 Franken in der NLA pfiff, verfällt seiner Spielsucht und gerät auf die schiefe Bahn.
1999 wird er wegen Urkundenfälschung und Vertrauensmissbrauch zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt. Klötzli hatte als Bankangestellter zwischen 1990 und 1993 insgesamt 800'000 Franken unterschlagen. Später lebte der ehemalige Skandal-Ref zurückgezogen im Kanton Jura, wo er mit seiner Frau ein Restaurant führte. Seit Ende 2017 ist Klötzli pensioniert.