Es ist ein Abend für die Geschichtsbücher des Schweizer Sports. Bis zu 1,32 Millionen Zuschauer sind vor dem Fernseher live mit dabei, als die U17-Nati in Nigeria gegen den Gastgeber den WM-Final bestreitet. Es ist der Höhepunkt eines Turniers, das von A bis Z fantastisch verläuft.
Die Schweiz startet am 24. Oktober mit einem 2:0-Sieg gegen Mexiko. Mittelfeldspieler Pajtim Kasami haut einen Freistoss zum 1:0 ins Tor, den zweiten Treffer faustet sich der mexikanische Goalie nach einem Freistoss gleich selber ins Netz. Sicher bringt die Nati den Sieg ins Trockene, obwohl sie nach dem Platzverweis von Oliver Buff die letzte halbe Stunde in Unterzahl spielen muss.
Auf die WM auf dem schwarzen Kontinent hat sich die Delegation akribisch vorbereitet. Das ganze Team wird auf Gelbfieber, Typhus und Malaria geimpft. Ein eigener Koch ist dabei, ein Sicherheitsverantwortlicher ebenfalls. Die meiste Zeit verbringen die jungen Fussballer, wenn sie nicht gerade auf dem Platz stehen, im Hotel, das einem Hochsicherheitstrakt gleicht.
«Es ist U17-WM in Nigeria – und kaum einer weiss es», schreibt die «Berner Zeitung» nach dem Auftaktsieg. Noch ahnt der Redaktor nicht, wie sehr die Schweiz mitfiebern wird. Nach dem zweiten Spiel ist die Achtelfinal-Qualifikation bereits geschafft, denn die Nati besiegt auch Japan. Es ist ein begeisterndes Spiel. Die Schweiz dreht in der zweiten Halbzeit einen 1:2-Pausenrückstand und gewinnt mit 4:3.
Haris Seferovic trifft doppelt, Granit Xhaka und Ricardo Rodriguez schiessen die weiteren Tore. Namen, die noch kaum einer kennt. Im Rückblick kann festgehalten werden, dass die Floskel «Diese Namen müssen Sie sich merken» für einmal hundertprozentig zutrifft.
Brasilien ist in einem Fussballspiel gegen die Schweiz immer der Favorit. Doch im dritten Vorrundenspiel gewinnt der Aussenseiter. Nassim Ben Khalifa, der hochtalentierte Stürmer aus dem GC-Nachwuchs, trifft mit dem Kopf zum 1:0-Siegtreffer.
«Ist da eine neue goldene Generation herangewachsen?», fragt sich die NZZ. Sie fühlt sich bereits an die U17-Nati erinnert, die im Jahr 2002 Europameister geworden ist, mit Spielern wie Philippe Senderos, Tranquillo Barnetta und Reto Ziegler.
Im Achtelfinal trifft die Schweiz als Gruppensieger auf einen Gruppendritten. Was auf dem Papier wie eine lösbare Aufgabe wirkt, stellt sich in der Realität als harter Brocken heraus. Denn der Gegner ist keine Bananenrepublik, sondern Deutschland, der amtierende Europameister. Im Tor der heutige Barcelona-Keeper Marc-André ter Stegen, im Sturm Mario Götze, 2014 der Siegtorschütze im WM-Final der «Grossen».
Dennoch ist Nati-Trainer Dany Ryser vor dem Duell mit dem Nachbarn gelassen. «Wir wissen, dass es möglich ist, die Deutschen zu schlagen, und dürfen mit einem gesunden Selbstvertrauen ins Spiel gehen. Wir sind fähig, an diesem Turnier jeden Gegner zu bezwingen.» Ryser sollte Recht behalten – doch die Partie ist ein echter Krimi.
«Watscht die Schwaben ab!», fordert der «Blick» von den jungen Schweizern. Die tun sich schwer. Zwei Mal gehen sie durch Rodriguez und Seferovic in Führung, zwei Mal gleichen die Deutschen aus. In der Verlängerung haben die Schweizer den längeren Atem. Der eingewechselte André Gonçalves und Ben Khalifa per Penalty schiessen die Schweiz 4:2 in Führung, Deutschland gelingt kurz vor Schluss nur noch der Anschlusstreffer.
Die Fussball-Schweiz hat nun endgültig Lust auf mehr. Diese jungen Spieler machen ganz einfach grosse Freude. Wurden die Partien bislang nur auf Eurosport gesendet, überträgt ab dem Viertelfinal auch das Schweizer Fernsehen. «Man spürt hier in Nigeria langsam, dass wir zuhause offenbar einiges ausgelöst haben», sagt Coach Ryser.
Der Erfolg kommt nicht von ungefähr. Der Schweizer Verband setzte in der Ausbildung bewusst Schwerpunkte in der Offensive. Das zahlt sich nun aus. «Klar, es braucht immer auch Talent», gibt Ryser zu. «Aber man kann auch viel einstudieren. Das Training im Abschluss wurde verfeinert. So erarbeiten sich die Jungen früh viel Selbstbewusstsein. Und im aktuellen Jahrgang hat es tatsächlich gleich mehrere überdurchschnittliche Angreifer.»
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Dabei ist einer, der im Sturm eigentlich gesetzt ist, in Nigeria gar nicht dabei. Josip Drmic muss sich die WM zuhause in Bäch SZ anschauen. Zwei Mal ist er durch den Einbürgerungstest gerasselt. «Beim zweiten Mal war ich enorm nervös und hatte einen Blackout», ärgert sich Drmic, der unter anderem die Nachbargemeinden von Freienbach aufzählen musste. «Ich wusste alle, ausser Hurden.»
«Ich packe genug Kleider ein bis zum Final», sagt Mittelfeldspieler Granit Xhaka vor dem Turnier selbstbewusst, «ich will Weltmeister werden.» Der Traum lebt nach dem Viertelfinal weiter, denn die Schweiz schlägt auch Italien, nach Brasilien und Deutschland die dritte Fussball-Grossmacht.
Ben Khalifa bringt die Schweiz in Führung, nach dem italienischen Ausgleich schiesst Oliver Buff nach der Pause das 2:1. «Beim Goal von Oliver habe ich so laut in die Hände geklatscht, dass die Katze geflüchtet ist», verrät Buffs Mutter im «Blick». Zum Matchwinner wird indes Goalie Benjamin Siegrist, der kurz nach dem 2:1 einen Foulpenalty hält. Nati-Trainer Ryser konstatiert, dass sein Team «zur Turniermannschaft gereift ist».
Das Interesse an der U17 wird von Tag zu Tag grösser. «Die Spieler sind pausenlos am Handy», sagt Ryser und schiebt dem Treiben einen Riegel vor. Interviews dürfen nur noch einmal täglich während eines bestimmten Zeitfensters geführt werden. «Das Team muss sich konzentrieren.»
Im solothurnischen Mümliswil werden derweil eifrig Flugpläne studiert. Therese und Peter Kamber, die Eltern von Nationalspieler Janick, wollen in der Endphase des Turniers live mit dabei sein. «Wenn ihr es in den Final schafft, kommen wir nach Nigeria», versprechen sie ihrem Sohn vor der WM – wohl eher im Scherz als ernst gemeint. Doch versprochen ist versprochen und so beginnen hektische Tage: Visa organisieren, Impfungen durchführen lassen, Schwester Lara von der Schule dispensieren lassen.
Das Ziel der Schweizer ist mittlerweile klar. Janick Kamber formuliert es deutsch und deutlich: «Wir brauchen nicht um den heissen Brei herumzureden. Jetzt wollen wir den Kübel in die Schweiz holen!» Doch noch ist die Nati nicht am Ziel, erst steht der Halbfinal gegen Kolumbien an. Und der wird zu einer unerwartet klaren Sache.
Gleich mit 4:0 fegt die Schweiz die Südamerikaner vom Rasen, das Spiel ist eine Augenweide. «Fussballzauber made in Switzerland», titelt «20 Minuten». Ben Khalifa und Seferovic sind wieder einmal nicht zu stoppen, sie bringen die Schweiz vor der Pause in Führung; nach dem Seitenwechsel treffen die Aussenverteidiger Rodriguez und Bruno Martignoni.
Erfolgstrainer Ryser, von dem mittlerweile in jedem Medium ein Porträt erschienen ist, spricht von einem «grossen Moment für den Schweizer Fussball. Man kann nicht hoch genug einschätzen, was diese Mannschaft geleistet hat.» In der Tat: Die U17-Nati begeistert die Massen mit Kampf, mit Leidenschaft, vor allem aber auch mit technisch hochstehendem Fussball. Erknorzte Siege? Nein, Hurra-Fussball!
«Wir haben vor jedem Gegner Respekt, aber Angst haben wir keine», sagt Stürmer Seferovic vor dem Final. Ausgerechnet Nigeria ist dort der Gegner, der WM-Gastgeber. Sind die afrikanischen Zuschauer im bisherigen Turnierverlauf zu Fans der Schweizer geworden, wird dies im Endspiel natürlich anders sein. Das spiele keine Rolle, findet Seferovic: «Jetzt kommt unsere riesige Chance. Die müssen wir packen.»
Das WM-Fieber hat mittlerweile das ganze Land erfasst, nur einer macht den Miesepeter. Alex Frei hält fest: «Die A-Nati bleibt die Lokomotive des Schweizer Fussballs.» Diese A-Nati wird am Vorabend des U17-Finals ausgepfiffen, als sie in Genf ein Testspiel gegen Norwegen 0:1 verliert. Frei und Co. sind maximal eine Dampf-Lok. Der TGV rauscht durch Nigeria.
Vor dem Final ist bei den rot-weissen Fans nicht bloss das eigene Team ein Thema. «Wie alt sind denn die Nigerianer?», fragt nicht nur der «Blick am Abend». Ein nigerianischer Funktionär hatte zuvor behauptet, Captain Fortune Chukwudi sei bereits 25 Jahre alt. «Ein heisses Eisen, ich will mir daran nicht die Finger verbrennen», sagt dazu Otto Pfister.
Der deutsche Trainer, ein Weltenbummler, der oft auf dem Schwarzen Kontinent tätig war, gibt im «SonntagsBlick» eine Anekdote zum Thema zum Besten: «Anthony Yeboah war ja auch immer gleich alt. Uli Hoeness hat mich mal angerufen, weil Bayern den Ghanaer verpflichten wollte. Hoeness fragte, wie alt Yeboah sei. Ich antwortete: ‹Da gibt's nur eins, Sie müssen nach Afrika reisen und bei seiner Familie nachfragen.›»
Spätestens als am Sonntagabend in Abuja der Final angepfiffen wird, sind die Altersdiskussionen in den Hintergrund gerückt. Janick Kambers Eltern haben es gerade noch rechtzeitig von Mümliswil ins Stadion geschafft, einer Polizeieskorte sei Dank.
«Geht hinaus und freut euch», gibt Ryser seinen Jungs mit auf den Weg. Nigeria stürmt von Beginn an, doch die Schweizer lassen sich nicht aus dem Konzept bringen. «Es gelang uns, die Schnelligkeit von Nigeria zu bremsen, in dem wir etwas tiefer gestanden sind», beschreibt der Trainer nach dem Spiel seine taktische Änderung gegenüber den vorangegangenen Spielen. Sie geht auf.
Nach 63 Minuten kann Oliver Buff einen Corner treten. Er bringt den Ball hoch in den Strafraum. Haris Seferovic setzt zum Kopfball an und verwertet die Vorlage – Tor! Tor für die Schweiz! In einem WM-Final!
Das 1:0 verteidigen die Schweizer bis zum Schlusspfiff. Nicht die aktivere, sondern die clevere Mannschaft holt sich den Weltmeistertitel. Die Schweiz setzt sich gegen elf nigerianische Spieler und gegen 64'000 lärmende nigerianische Fans mit ihren nervtötenden Vuvuzelas durch. Gigantisch!
Es ist 21.17 Uhr, als Captain Frédéric Veseli aus den Händen von FIFA-Präsident Sepp Blatter den Weltmeisterpokal erhält. Die Trikots tragen die Schweizer Spieler zu diesem Zeitpunkt verkehrt herum, mit der Rückennummer vor dem Bauch. «Weltmeister, das tönt wunderschön», freut sich Trainer Ryser noch am Spielfeldrand. «Es wird wohl dauern, bis wir das realisieren.»
Nach dem Triumph steht ein Gala-Diner auf dem Programm – und eine lange Nacht. «Heute gehen wir sicher nicht früh ins Bett, das steht fest!», kündigt WM-Torschützenkönig Haris Seferovic an.
Am Dienstagmorgen um 8.30 Uhr ist die U17-Nati zurück in der Schweiz. Hunderte Fans und Angehörige erwarten die Weltmeister am Flughafen Zürich. Strahlend präsentieren die Spieler den Pokal, geben Interviews und Autogramme. «Was diese Jungs geleistet haben, ist einmalig», sagt Trainer Dany Ryser stolz.