Am 8. Mai 1984 geht die Meldung um die Welt, die von Pessimisten längst erwartet worden ist: «Das Nationale Olympische Komitee der Sowjetunion verzichtet auf die Entsendung von Aktiven nach Los Angeles.» Begründet wird dieser Verzicht mit Verletzungen der olympischen Charta durch die USA und unzureichenden Sicherheitsgarantien für die sowjetischen Athleten.
Den Vorwand liefern einige extreme Organisationen, die antikommunistische und antisowjetische Demonstrationen während der Spiele angekündigt haben. Das ist aber auch alles. Objektiv gesehen längst kein Grund für einen Olympiaboykott.
Diese sowjetische Olympiaabsage ist rein politischer Natur und die Retourkutsche für den US-Boykott der Sommerspiele von 1980 in Moskau. Und doch kommt der Boykott überraschend. Die Sowjets hatten die vorolympischen Wettkämpfe 1983 in Kalifornien bestritten, umfassende Vorbereitungen für die Olympiaexpedition getroffen und ein grosses Kontingent an Olympiatickets angefordert.
Aber die Amerikaner haben sich in falscher Sicherheit gewiegt. Der sowjetische Boykott führt auch zu Absagen der Verbündeten: Die DDR, Ungarn, Polen, die CSSR und Kuba verzichteten auf die Spiele 1984. Aus dem Ostblock ist nur Rumänien dabei.
Das Ende der Spiele scheint gekommen. Zahlreiche westliche Kommentatoren sprechen vom «Ende der Olympischen Spiele» und dem «Untergang der olympischen Idee». In den Emotionen des Augenblickes wird übersehen, dass die Olympischen Spiele immer und immer wieder politischen Ränkespielen ausgesetzt und politisch missbraucht worden sind.
Vor und nach dem Ersten Weltkrieg waren gar verschiedene Länder von den Spielen ausgeschlossen worden. 1936 inszenierten die Nationalsozialisten die Spiele in Berlin als grosse Show. 1956 boykottierten die Schweiz, Holland und Spanien die Spiele in Melbourne aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in Ungarn.
1972 in München erschütterte das Attentat der Palästinenser auf die Mannschaft Israels die Welt. 1976 boykottierten 28 afrikanische Staaten die Spiele in Montreal, weil sich das IOC weigerte, Neuseeland auszuschliessen: Das neuseeländische Rugby-Nationalteam hatte eine Partie gegen eine südafrikanische Mannschaft ausgetragen.
1980 boykottierten die Amerikaner aus Protest gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan die Spiele in Moskau. Deutschland, Kanada, Norwegen, die Türkei und 37 weitere Länder schlossen sich dem Boykott an.
Die Schweiz hat nur 1956 die Olympischen Spiele aus politischen Gründen nicht bestritten. Für Moskau 1980 war es den einzelnen Sportverbänden und Athleten überlassen, ob sie nach Moskau reisen wollten oder nicht. Christine Stückelberger (1976 in Montreal Olympiasiegerin) und die Dressurreiter-Equipe, die Schützen mit Weltmeister Moritz Minder und die Degenfechter verzichteten – und vergaben wohl Medaillen. 1984 blieb kein Schweizer zu Hause.
Der von den Sowjets angezettelte Boykott beeinträchtigt den Erfolg der Spiele von 1984 nicht. Ein paar Medaillen gehen ohne die Konkurrenz aus dem Ostblock «billiger» weg – aber es wird ein grandioses Sportfest. Mehr noch: Ausgerechnet diese Spiele markieren den Beginn einer neuen Ära. Die Spiele in Los Angeles sind nämlich die ersten, die ohne staatliche Hilfe privatwirtschaftlich organisiert und finanziert werden. Es ist der Anfang des Umbaus der Spiele in eine riesige Werbe- und Geldmaschine.
OK-Präsident Peter Ueberroth erwirtschaftet einen Gewinn von 215 Millionen Dollar. Das Geld kommt einer Stiftung für die Förderung des Jugendsportes zu Gute. Noch 1976 hatten die Spiele in Montréal mit einem Defizit von sage und schreibe 990 Millionen kanadischen Dollars geendet. 790 Millionen musste die Provinz Quebec und 200 Millionen die Stadt Montréal bezahlen.
Nach Los Angeles hat es nur noch einen kaum beachteten letzten Olympiaboykott gegeben: Nordkorea blieb 1988 den Spielen in Seoul (Südkorea) fern, weil es nicht als Co-Organisator berücksichtigt worden war. Äthiopien, Kuba und Nicaragua schlossen sich der Aktion an. Niemand kümmerte es.
Inzwischen sind die Olympischen Spiele als Weltbühne des Sportes für jedes Land so wichtig geworden, dass ein Boykott nicht mehr zur Debatte steht. Zudem hat gerade Los Angeles 1984 gezeigt, dass ein Boykott keinerlei Wirkung erzielt. Die düsteren Kommentare nach Bekanntgabe des Boykottes am 8. Mai waren längst vergessen, als die Spiele am 28. Juli eröffnet wurden.
Die Spiele von 1984 sind nicht als Boykottspiele in die Geschichte eingegangen, sondern als rauschendes Sportfest, orchestriert nach allen Regeln der hochentwickelten nordamerikanischen Sport- und Vermarktungskultur. Los Angeles 1984 öffnete den olympischen Funktionären die Augen. Sie erkannten, dass die Spiele das Potenzial zum Milliardenbusiness haben.