Ein frischer Wind weht gerade durch Englands Fussball. Die Familien strömen mit ihren Kindern nach der Tragödie von Hillsborough endlich wieder in die Stadien, das heiss geliebte Spiel blüht neu auf.
Seinen Beitrag für die steigende Euphorie in England leistet Tottenham-Söldner und Englands neuer Liebling Paul Gascoigne. Der Jungstar in den Reihen von Tottenham Hotspur hat grossen Anteil an Englands Erfolg an der WM 1990 gehabt. Er gehört im «estate italiana» zu den besten Mittelfeldspielern des Turniers und führt die englische Nationalmannschaft bis in den Halbfinal.
Die Final-Träume platzen für den Inselstaat erst im Penaltyschiessen gegen Deutschland, während Gascoigne im Endspiel nicht mehr hätte auflaufen dürfen. Nach einem Foul kurz vor Schluss erhielt er die Gelbe Karte und wäre für den Final gesperrt gewesen. Der Engländer vergoss bittere Tränen und rührte damit eine ganze Nation.
Ein Jahr später steht der 23-Jährige mit den «Spurs» gegen Nottingham Forest im Final des prestigeträchtigen FA-Cups. Im Halbfinal besiegte man Arsenal 3:1, wobei «Gazza» mit einem herrlichen Freistosstor überzeugte. In seiner letzten Saison für die Spurs vor dem Abgang nach Italien zu Lazio Rom will der Kämpfer nochmals zeigen, was er drauf hat.
Der Künstler, der neben dem Fussball wegen Alkoholmissbrauchs des öfteren für Negativschlagzeilen sorgte, muss vor dem Match allerdings zur Beruhigung kommen. Gegenüber BBC Radio 5 sagt er später: «Bevor wir ins Wembley gingen, kickten wir im Hotelzimmer in alles rein, was rumstand, sprangen vom Bett, so hoch wir konnten und spedierten Seifen mit Halbvolleys aus dem Fenster. Als der Doktor ins Zimmer kam, sagte er: ‹Wir hörten den Lärm, du musst jetzt diese Pillen zu dir nehmen, Paul.›»
Als das Spiel angepfiffen wird, wirkt Gascoigne fast schon überdreht, mit dem Willen, seinem Namen alle Ehre zu machen. Dann, in den Startminuten das Foul, welches die Karriere der Fussball-Ikone ein erstes Mal erschüttern sollte. Bei einem brutalen Tackling gegen Nottinghams spielstärksten Mann, Gary Charles, bleibt Tottenhams Nummer 8 gleich selbst liegen.
Noch auf dem Platz wird Gascoigne behandelt und als er kurz darauf ganz ausgewechselt wird und der Arzt in der Kabine einen Kreuzbandriss diagnostiziert, bricht der harte Kerl in Tränen aus. Unterdessen hämmert Stuart Pearce den fälligen Freistoss traumhaft zum 1:0 in den Winkel.
Immerhin: Im Spital kann der bedauernswerte Gascoigne im TV mitverfolgen, wie sein Team dank eines 2:1-Siegs nach Verlängerung den Pokal in die Höhe stemmt. Eigentlich war das der grosse Traum des am Boden zerstörten «Gazza».
«Gazzas» Wechsel zu Lazio Rom, der schon vor dem Match in trockenen Tüchern war, wird um ein Jahr verschoben. In der Saison 91/92 absolviert er keine einzige Partie. Als der Transfer nach Italien im Sommer darauf doch noch vollzogen wird, beträgt die Ablösesumme nur noch drei statt achteinhalb Millionen Pfund. Mehr ist «Gazza» auch nicht mehr wert: Bei den Römern will dem Exzentriker nach der langen Verletzungspause nicht viel gelingen. Er kommt zwischen 1992 und 1995 nur auf 46 Partien und sechs Tore.
Nach drei Jahren rauscht Gascoigne titellos wieder ab und wechselt zum schottischen Traditionsverein Glasgow Rangers, wo er dank erneut starken Leistungen zurück in die Nationalmannschaft stösst und an der EM 1996 in England wieder eine der prägenden Figuren wird. Im selben Jahr wird er in Schottland zum Spieler des Jahres gewählt.
Die Zeit in Glasgow ist seine erfolgreichste. Zweimal wird er schottischer Meister, einmal Pokal- und zweimal Ligapokalsieger. Wegen seiner Alkohol-Eskapaden verkauften die Rangers ihren Superstar 1998 an Middlesbrough. Seine letzten Premier-League-Auftritte werden aber bereits von seinen Alkohol- und Drogenproblemen überschattet.
Nach seinem Rücktritt kann «Gazza» sein unangebrachtes Benehmen neben dem Platz nicht mehr mit den Leistungen auf dem Platz vertuschen. Mehr und mehr fällt der ehemalige Star in ein Loch, sorgt mit Alkoholexzessen für Schlagzeilen und verprügelt öffentlich seine Frau.
Gegenüber dem Fernsehsender Sky News Television erklärt er sich später so: «Wenn du in einem Restaurant sitzt und jemand nennt deine Mutter eine Hure, ich hasse das – und ja, ich habe ihre Arme gehalten und schlug meinen Kopf gegen ihren. Ich traf ihn nicht richtig, habe sie eher zu Boden geworfen. Aber die ganze Geschichte tat mir furchtbar leid.»
Gascoignes Leben wird fortan von Therapien und Entzugskliniken geprägt. Im fortschreitenden Alter hängt das Leben des ehemaligen Fussball-Profis mehrfach am seidenen Faden. Kurz nach seinem endgültigen Rücktritt 2004 wird er das erste Mal in einem lebensbedrohlichen Zustand ins Spital eingeliefert.
Auch Anfang 2013 wird er wieder einmal eingeliefert. Nach einigen Wochen darf Gascoigne die Entzugsklinik wieder verlassen. Gegenüber der «Sun» sagt der damals 45-Jährige: «Drei Ärzte dachten, dass ich es nicht schaffe. Ich habe das durchgemacht, den Tod. Ich war tot.» Weiter meinte er: «Das muss eine Inspiration sein, dass mir das nie wieder passiert.»
Doch im Juli desselben Jahres findet man einen völlig betrunkenen Mann am Strassenrand. Es ist «Gazza», welcher sich einmal mehr volllaufen liess. Die «Sun» titelt darauf: «Eine Bitte an alle Barkeeper und Fans: Gebt diesem Mann nichts zu trinken!»
2014 zog er sich bei seinem früheren Verein Newcastle United für ein Show-Match das Trikot über. Er sah gesund aus und Lauren, Pauls Nichte, postete ein Bild ihres Onkels mit den Worten: «Das ist der beste Onkel der Welt! Ich bin so froh, dass er zurück ist und gesund.» Danach ist es um den gefallenen Fussball-Star ruhig geworden. Bis er 2018 wegen sexueller Belästigung angeklagt wurde, weil er eine Frau in einem Zug gegen ihren Willen geküsst habe – im Oktober 2019 wurde er aber freigesprochen.